Erst Freudenberg, dann Wunsiedel – und dann die Frage: Werden junge Menschen immer gewalttätiger? Die Statistik gibt das nicht her, trotzdem machen sich der Jugendrichter Ralf Rose und Klaus-Dieter Weinmann von der Jugendgerichtshilfe Gedanken.
Eine Zwölfjährige aus Freudenberg in Nordrhein-Westfalen wird im März mutmaßlich von zwei Mitschülerinnen, zwölf und 13 Jahre, erstochen. In Wunsiedel in Bayern kommt Anfang April in einer kirchlichen Jugendeinrichtung ein zehnjähriges Mädchen gewaltsam zu Tode. Ein Elfjähriger soll nach ersten Erkenntnissen an dem Tötungsdelikt, von dem bislang nichts näheres bekannt ist, beteiligt sein. In den vergangenen Wochen schreckten alleine diese beiden Meldungen, bei denen Kindern von mutmaßlich anderen Kindern getötet wurden, die gesamte Öffentlichkeit auf.
Schockiert trotz professioneller Distanz
Dass Kinder Kinder töten, bleibt statistisch zwar ein Randphänomen, dennoch macht es auch Fachleute im Kreis Böblingen betroffen. Einer, der beruflich täglich mit straffälligen Jugendlichen zu tun hat, ist Ralf Rose. Seit sieben Jahren fungiert er als Jugendrichter am Amtsgericht Böblingen. Junge Menschen, die Straftaten begehen, sind dem Richter nicht fremd. Dennoch blickt auch er mit Schrecken auf Taten wie die in Freudenberg: „Trotz der professionellen Distanz eines Richters, hat mich die Tat schockiert. Auch wenn wir zuletzt von anderen Tötungsdelikten durch Minderjährige gehört haben, bilden solche Taten eine Ausnahme“, betont Ralf Rose.
Jugendliche begehen meistens minderschwere Straftaten
Dass Gewalttaten des Ausmaßes von Freudenberg immer häufiger vorkämen, können Studien indes nicht belegen. „Jugendkriminalität ist kein neues Phänomen. Aus der Forschung ist bekannt, dass ein überwältigender Anteil von Jugendlichen durch Bagatelldelikte auffällig wird. Nur ein geringer Anteil neigt zu schwereren Straftaten“, sagt Klaus-Dieter Weinmann, Leiter der Böblinger Jugendgerichtshilfe. Vielmehr konzentrierten sich die Straftaten 2022 auf Rohheitsdelikte wie Körperverletzung (22,6 Prozent), Diebstahl (22,4 Prozent) oder Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (13,9 Prozent). Die Zahl der Verfahren am Böblinger Jugendschöffengericht und Landgericht Stuttgart waren zuletzt rückläufig.
Im Kreis Böblingen verzeichnete die Polizei laut Sicherheitsbericht 2022 durchaus einen Anstieg der Kriminalität von rund 32 Prozent bei Kindern und um 21,8 Prozent bei Jugendlichen. Das sind 321 tatverdächtige Kinder beziehungsweise 156 Jugendliche mehr als 2021. Im Bereich der Gewaltkriminalität stieg die Zahl nach Jahren erstmalig wieder an: Von 341 auf 445 Tatverdächtige, also 30,5 Prozent. Eines Eindrucks, den die Polizeistatistik anführt, kann sich auch der Richter nicht erwehren: „In den vergangenen Jahren gibt es bei vielen gewalttätigen Jugendliche den Trend, Messer mit sich zu führen. Wo früher Schläge eingesetzt wurden, zückt man heute öfter ein Messer.“ Der Sicherheitsbericht sagt diesbezüglich: „Bei den tatverdächtigen Kindern (von sieben auf 15 Tatverdächtige) und Jugendlichen (20 auf 35) sind Zunahmen zu verzeichnen.“ Delikte wie Mord oder Totschlag gab es keine.
Unvergessen: Ein 17-Jähriger tötet seine Mutter und seine Großmutter
Auch deshalb würde Ralf Rose argumentieren, dass junge Menschen nicht unbedingt brutaler geworden sind. „Meine Beobachtung der letzten Jahre entspräche einer solchen Aussage nicht.“ Der letzte Fall im Kreis, bei dem ein Jugendliche eine andere Person getötet hat, liegt bereits einige Jahre zurück. Am 11. Dezember 2018 hatte ein 17-Jähriger aus Böblingen seine Mutter und Großmutter getötet. Der Jugendliche hatte seine Mutter nach einem Streit mit einem Küchenmesser angegriffen – und dabei auch seine Großmutter getroffen. Beide starben noch in der Wohnung. Das Landgericht, wo der Fall verhandelt wurde, erklärte den Jugendlichen letztlich für schuldunfähig. Gutachter hielten ihn für psychisch krank.
Die Gründe, warum Jugendliche zu Gewalttätern werden, sind vielfältig. „Am häufigsten sind eigene Gewalterfahrungen, entweder in der Familie, im Umfeld oder in der Gesellschaft, in der die jugendlichen Straftäter groß geworden sind“, weiß Richter Rose. Vor allem Männer mit einer gewaltvollen Biografie werden häufig selbst zu Tätern, weil sie gelernt haben, Gewalt als Mittel der Interessendurchsetzung oder Emotionsbewältigung einzusetzen. Aber auch soziale Faktoren wie Armut, Ausgrenzung, Konflikte in der Familie oder Suchterkrankungen können Straftaten begünstigen.
„Bei fast allen Fällen jugendlicher Kriminalität ist fehlende Konsequenz ein Problem. Im Jugendstrafrecht haben wir keinen reinen Bestrafungs-, sondern einen Erziehungsauftrag. Deshalb pflege ich als Richter zu sagen: ‚Wenn A, dann B.’ Das wirkt bei einigen, die ins Gefängnis einrücken müssen. Sie sehen nämlich plötzlich, dass ihr Handeln Konsequenzen haben kann“, erläutert Ralf Rose.
Wie soll mit kindlichen oder jugendlichen Straftätern umgegangen werden?
Bestrafen und Wegsperren ist also keine gängige Praxis für Jugendliche in Deutschland. Bei minderschweren Fällen übernimmt im Landkreis die Jugendgerichtshilfe die Begleitung Straffälliggewordener. Sie berät und betreut Jugendliche und deren Familien vor, während und bei Bedarf auch nach Abschluss des Verfahrens. Auch gerichtliche Auflagen kontrolliert sie. Durch erzieherische Maßnahmen, sagt ihr Leiter Klaus-Dieter Weinmann, kann die Jugendgerichtshilfe dazu beitragen, dass von der Strafverfolgung abgesehen werden kann. 2022 hat die Einrichtung rund 900 Jugendliche begleitet.
Die Debatte, ob die Strafmündigkeit von 14 Jahren heruntergesetzt werden sollte, verfolgt auch Ralf Rose – mit einem differenzierten Blick: „Menschlich verstehe ich, wenn Eltern eines getöteten Kindes eine harte Gefängnisstrafe fordern. Aus juristischer Sicht hat sich die Regelung aber meines Erachtens bewährt, dass unter-14-Jährige nicht strafmündig sind. Bei der Vorstellung, dass ein Zwölfjähriger im Gefängnis sitzt, ist mir nicht wohl.“ Jugendhilfemaßnahmen und Therapien seien wirksamer, um die jungen Menschen wieder auf den rechten Weg zu führen.
Profis arbeiten nun intensiv mit den beiden Mädchen
Im Falle der getöteten Luise sind die beiden tatverdächtigen Mädchen im Übrigen nicht einfach „davon gekommen“. „Es ist wichtig zu wissen, dass die Zwölf- und 13-Jährige, soweit wir das wissen, in geschlossene psychiatrische Einrichtungen gekommen sind, wo intensiv mit ihnen gearbeitet wird. Sie laufen also nicht mehr frei rum und werden das auch so schnell nicht mehr tun“, betont der Böblinger Amtsrichter.