Stilianos Filippidis verabschiedet sich. Foto: /Michael Werner

Fast 30 Jahre lang hat Stilianos Filippidis seine Änderungsschneiderei in Dürrlewang betrieben. Am 30. Juni ist Schluss. Der Schneider geht zurück nach Griechenland, weil er sagt, dass er nur noch ein einziges Wort kenne.

Stilianos Filippidis kann Säume so rasant auftrennen, wie er Worte aneinanderzureihen vermag. „Aber das einzige Wort, das ich jetzt kenne, ist – Leben“, sagt der Schneider, während er sein blaues T-Shirt hochzieht und seine Operationsnarbe längs über den Bauch zeigt. Im vergangenen Jahr haben ihm die Ärzte einen Tumor aus dem Dickdarm geschnitten, dieser Tage endet die Chemotherapie. Eigentlich habe er früher nach Griechenland zurückkehren wollen, sagt Stilianos Filippidis (67), aber dann kam der Krebs dazwischen und die Behandlung. Alles sei gut verlaufen. Am 30. Juni schließt er nach 29 Jahren seine Änderungsschneiderei in Stuttgart-Dürrlewang, die sich wenige Schritte von der Stadtbahn-Haltestelle entfernt neben eine Moschee und eine unbemannte Bankfiliale duckt.

Er zieht sein Handy aus der Hosentasche und zeigt ein Foto von vier nebeneinander in den Himmel ragenden Häusern auf der Insel Kreta: „Eines ist für mich, drei vermiete ich.“ Er hatte immer einen Plan. Manchmal musste er ihn an die Wirklichkeit anpassen.

„2018 machen wir uns auf den Weg zurück nach Griechenland“, hatte Stilianos Filippidis immer zu seiner Frau Eleni gesagt, einer „Meisterschneiderin, die Haute Couture gemacht hat“, und die ihm, damals noch Arbeiter bei Bosch, 1982 nach Stuttgart gefolgt war. Doch Ende 2016 wurde ein Tumor in der Lunge seiner Frau diagnostiziert. Drei Monate später war sie tot, und Stilianos Filippidis musste sich plötzlich alleine um drei Änderungsschneidereien kümmern. Eine lag beim SI-Centrum in Möhringen, eine weitere war in einer Kaserne der Amerikaner, die Schneiderei in Dürrlewang hat er behalten. „Man muss das beste aus einer Situation herausholen“, sagt er. Vor ihm liegt der Ärmel einer weißen Polyesterjacke, den er mit beherztem Schereneinsatz kürzt: „Man muss Mut haben zum Schneiden!“

Der Laden war ein Treffpunkt in Dürrlewang

Der Tod hat das Leben von Stilianos Filippidis, der anno 1961 als Kind mit seinen Eltern aus der Gegend um Thessaloniki nach Stuttgart kam, immer wieder durcheinandergewirbelt. In der Schule habe es damals außer ihm keine ausländischen Kinder gegeben, erzählt er. Im Jahr 1968 ging er zurück nach Griechenland, lebte bei den Großeltern. Als sein Vater, ein Schneidermeister, 1980 starb und die Ausbildung seines Bruders finanziert werden musste, brach Stilianos Filippidis sein Studium ab, zog wieder nach Deutschland, und heuerte bei Bosch an, wo er auch noch eine Zeit lang weiterarbeitete, während seine Frau und er ihre Änderungsschneidereien betrieben.

Er mache alles, sagt Stilianos Filippidis, der Schneider und Modedesigner gelernt hat, vom Knopf annähen bis zur Maßanfertigung. Dann betritt eine ältere Dame seinen Laden und gibt ihm ein grünes Kleid. „Die Schulterpolster“, sagt sie. Er sagt ihr, dass am 30. Juni Schluss ist. Sie entgegnet, dass das traurig sei, „aber Sie haben es verdient.“ Manchmal kämen einsame Menschen in seinen Laden, „die sitzen dann hier und unterhalten sich. Es ist wie ein Treffpunkt.“ Eine Stammkundin hat unserer Zeitung geschrieben: „Seine Werkstatt war nicht nur Nähstube, sondern auch Plauderstube und Treff für die zwischenmenschlichen Kontaktpflege.“ Man sei „stets warmherzig empfangen“ worden, „und für die Schneiderei gab es immer eine kompetente, günstige Lösung.“

Abschied mit griechischer Livemusik

Die Dame, die das grüne Kleid bringt, fragt nicht nach dem Preis. Er würde seine Preise mithilfe seines Gewissens kalkulieren, sagt Stilianos Filippidis, und viele Kunden würden ihm sagen, dass er zu billig sei. Eine weitere Dame will ihre gekürzte Hose abholen, sie darf 9 Euro bezahlen. Die gekürzten Jackenärmel werden 12 Euro kosten. „Es gab keinen Tag, an dem ich keine Arbeit hatte“, sagt der Schneider, und ein Mitarbeiter einer Autowerkstatt kommt vorbei und bittet ihn, in den verbleibenden Tagen ein Plakat aufzuhängen. Das sei in Ordnung, sagt Stilianos Filippidis, dessen eigenes Plakat bereits an der Tür hängt: „Es war mir eine sehr große Freude, hier in Dürrlewang für Sie zu schneidern“, steht darauf. 80 Prozent seiner Kunden hätten ihn allerdings von „außerhalb“ aufgesucht, erzählt Stilianos Filippidis, „aus Waiblingen, Backnang und Fellbach“ beispielsweise.

Er habe, als er den Laden in Dürrlewang 1994 übernommen hat, als erstes seine Nähmaschine ins Schaufenster gestellt, um den Kunden die Kontaktaufnahme zu erleichtern. Sobald man mit Leuten ins Gespräch komme, entwickle sich meistens alles positiv. „Ich habe mich angepasst“, sagt Stilianos Filippidis auch, und dass er seine Änderungsschneiderei immer zwei Monate im Jahr zugesperrt habe: „Im Sommer nach Griechenland, im Winter eine Fernreise.“ Er sei täglich von seiner Wohnung in der Stuttgarter Innenstadt zu seinem Laden in Dürrlewang gefahren, der Trennung von Arbeit und Leben wegen. Er habe schon gelebt, bevor er „Leben“ zu seinem einzigen Wort erkoren habe. Jetzt möchte er nur noch „mit Würde weggehen“. Am 1. Juli, dem ersten Tag nach der finalen Schließung der Änderungsschneiderei, soll es dort ein Abschiedsfest mit griechischer Livemusik und Gegrilltem geben. Wahrscheinlich komme er von Griechenland aus manchmal zu Besuch nach Stuttgart, sagt der Schneider. Er habe viele Freunde hier. „Ich war nie alleine.“