Nicole Lieber-Hannes aus Dornstetten erkrankt 2020 an Leukämie. Dank einer Stammzellenspende überlebt sie. Zwei Jahre später trifft sie ihren genetischen Zwilling.
Sie ist noch ein bisschen wackelig auf den Beinen. Erst vor wenigen Tagen ist Nicole Lieber-Hannes aus der Klinik entlassen worden. Mal wieder. Eine Lungenentzündung machte ihr das Atmen schwer. „Ein Gefühl wie ersticken“, sagt die 27-Jährige.
Jetzt ist Nicole Lieber-Hannes erst mal nur froh, dass sie zurück nach Hause durfte. Nach Dornstetten, ein beschauliches 8000-Einwohner-Städtchen im Landkreis Freudenstadt. Die fünfjährige Tochter Cathleya trägt den Babykater Simba spazieren. Ehemann Frank stellt Gläser auf den Tisch, während Staffordshire-Terrier-Hündin Ayla fröhlich durch den Raum wuselt. Nicole Lieber-Hannes lässt sich auf einen Stuhl sinken und beginnt sofort zu erzählen. Davon, was sie und ihre Familie in den letzten drei Jahren durchmachen mussten.
Nicole Lieber-Hannes ist 24 Jahre alt, als sie die Diagnose erhält, die alles in ihrem Leben verändert: Akute Myeloische Leukämie. Eine besonders aggressive Form von Blutkrebs. Damals ist Tochter Cathleya zwei Jahre alt und Nicole Lieber-Hannes im siebten Monat mit dem zweiten Kind schwanger. Nach dem Urlaub auf Kos nimmt ihr der Frauenarzt Blut ab, reine Routine. Zwei Tage später ruft er an. Er klingt alarmiert, schickt sie in die Klinik. „Wir müssen eine Leukämie ausschließen“, sagt der Mediziner.
Schwanger und todkrank
Die junge Frau fällt aus allen Wolken, sie fühlt sich gesund. Dass sie im Urlaub manchmal schlapp war, beunruhigte sie nicht. „Ich war schließlich schwanger.“ Die blauen Flecken, die sich vermehrt auf ihrem durchtrainierten Körper zeigten, schrieb sie dem Sport zu – damals spielte sie Handball.
Viel Zeit hat die Familie nicht für Grübeleien. Die Ärzte beginnen sofort mit der Chemotherapie. Den kleinen Lian wollen sie zwei Wochen später auf die Welt holen. Doch es kommt anders. Die Chemo wirkt nicht, die Krebszellen vermehren sich rasant. Zudem hat Nicole Lieber-Hannes eine Hautentzündung, die ihr starke Schmerzen bereitet. Sie bekommt die zweite Chemo, als die Ärzte eine Blutvergiftung bei ihr feststellen. Nicole Lieber-Hannes bekommt immer weniger Luft. Auf der Intensivstation wird sie künstlich beatmet. Ein epileptischer Anfall leitet die Geburt ihres Sohnes ein. Er wird tot geboren. Zeit, sich zu verabschieden, zu trauern, bleibt nicht. „Der Professor war sehr direkt“, erinnert sie sich. „Entweder machen wir das ganze palliativ, schalten alle Geräte aus, dann haben Sie noch ein paar Stunden mit ihrer Familie, bevor es vorbei ist. Oder wir legen Sie ins künstliche Koma.“ Er fügt noch hinzu, dass die Überlebenschancen gering seien. Doch aufgeben kommt für die Sportlerin nicht infrage. Unter Tränen verspricht sie ihrer Familie: „Ich stehe wieder auf.“
Sieben Wochen liegt sie im Koma. Dass sie in dieser Zeit dem Tod gerade noch von der Schippe springt, erfährt sie erst viel später. Ein septischer Schock führt zu multiplem Organversagen. Infolgedessen sterben vier Fingerkuppen ab und müssen amputiert werden. Als sich die meisten Organe stabilisiert haben, erleidet sie eine Hirnblutung. Mehrmals wird ihre Familie gerufen, um sich von ihr zu verabschieden.
Eine Nahtoderfahrung verändert ihre Wahrnehmung
Was damals niemand ahnt: Während die Ärzte um ihr Leben kämpfen, macht Nicole Lieber-Hannes eine Nahtoderfahrung. „Ich habe meine Mutter wiedergesehen, die drei Jahre zuvor mit Ende 40 an Brustkrebs gestorben war. Sie sah jünger aus und gesund.“ Während der Nahtoderfahrung habe sie viel geweint, weil sie bei ihrer Mutter bleiben wollte. „Sie sagte immer wieder zu mir: Hör auf zu weinen, geh bitte zurück.“ Dieses Erlebnis habe sich sehr real angefühlt, nicht wie ein Traum. „Ich war ein Stück weit weg, auf einer anderen Ebene“, ist Lieber-Hannes überzeugt. Auch einen kleinen Jungen auf einem Fahrrad hat sie gesehen. Sie glaubt, dass es Lian gewesen ist. Seitdem hat sie keine Angst mehr vor dem Tod.
Als sie nach sieben Wochen erwacht, sprechen die Ärzte von einem Wunder. Die zweite Chemo hat angeschlagen. Doch die damals 24-Jährige ist so schwach, dass sie ihre Hand nicht bewegen kann. Der Körper, abgemagert von 68 auf 38 Kilo. Sie kann nicht selbstständig sitzen, braucht Hilfe beim Essen und bei der Körperhygiene. Ein Zustand, den sie nur schwer erträgt. „Totalschaden“ – so beschreibt sie ihren Zustand nach dem Aufwachen. „Ich war pampig zu jedem. Wollte keine Hilfe annehmen.“ Sie weint viel. Hat Angst, für immer ans Bett gefesselt zu sein, auch wenn die Ärzte ihr versichern: „Das wird wieder.“ Zu Hause kämpft sie sich Schritt für Schritt zurück ins Leben.
Was ihr Kraft gibt, ist das Wissen um ein weiteres Wunder: Die Dornstetterin hat einen genetischen Zwilling. Er hat sich als Stammzellenspender bei der DKMS registrieren lassen – seine Gewebemerkmale stimmen fast zu hundert Prozent mit denen von Nicole Lieber-Hannes überein. Stefan Drechsler aus Dresden, zweifacher Familienvater. Als er gefragt wird, ob er Blutstammzellen spenden möchte, sagt er sofort zu. Für an Leukämie Erkrankte ist eine Stammzellentransplantation oft die einzige langfristige Überlebenschance.
34 Tage von der Außenwelt isoliert
Gerade mal eine halbe Stunde – so lange dauert die Übertragung der gesunden Stammzellen. Dann heißt es warten, bis Nicole Lieber-Hannes ein neues Immunsystem aufgebaut hat. 34 Tage ist sie isoliert von der Außenwelt. Nur ihr Mann Frank darf zu ihr – eine Ausnahmegenehmigung in der strengen Pandemiezeit. „Ich habe oft gedacht: Ich schaffe es nicht“, erzählt sie. Tagelang hat sie Nasenbluten, sie wird intravenös ernährt, da die Mundschleimhaut durch die letzte Chemo angegriffen ist.
Als das neue Immunsystem zu arbeiten beginnt, fühlt es sich für Nicole Lieber-Hannes an wie Gliederschmerzen. „Ich war so happy, als sich endlich etwas bewegt hat“, sagt sie. „Mein Immunsystem ist jetzt männlich. Es ist Stefans. Verrückt!“
Stefan Drechsler ist kein Fremder mehr für sie. Bereits drei Monate nach der Transplantation schreibt er ihr eine Postkarte: „Gestern erhielt ich die positive Nachricht, dass es dir nach der Transplantation den Umständen entsprechend gut geht. Ich kann kaum in Worte fassen, wie sehr mich das freut! Ich wünsche dir weiterhin alles Glück der Welt und ganz viel Kraft für die nächsten Schritte. Dein Spender.“ Er muss zunächst anonym bleiben. Erst zwei Jahre nach der Übertragung dürfen sich Spender und Empfängerin kennenlernen.
Ein besonderes Familientreffen
Während Nicole Lieber-Hannes am Esstisch ihre Geschichte erzählt, ruft sie ihn via Videocall an, ihren Lebensretter, wie sie ihn von Anfang an genannt hat. Stefan Drechsler erscheint auf dem Handydisplay. Er lächelt, erkundigt sich, wie es ihr geht. Sie zeigt ihm den kleinen Kater Simba, der eine Fehlstellung an der Pfote hat, beim Laufen immer wegrutscht. Niemand habe ihn haben wollen. Doch sie habe sich ihm gleich verbunden gefühlt. Weil sein Füßchen sie an ihre fehlenden Fingerkuppen erinnert.
Gemeinsam erzählen sie, wie Stefan Drechsler Anfang des Jahres mit seiner Familie nach Dornstetten kam. Wie er aufgeregt vor Nicole Lieber-Hannes’ Tür stand. Er kennt die Gegend gut – vor einigen Jahren hatte er ein Praktikum im Nachbarort gemacht. Sie seien sich gleich vertraut gewesen, sagen beide. „Als würde ein guter Freund vorbeikommen.“
Die Kinder spielten miteinander. Bis Mitternacht saßen alle zusammen und lernten sich besser kennen. Stefan Drechsler sagt, er habe erst beim Treffen richtig realisiert, dass er offensichtlich ein Leben gerettet hat. „Ohne dich wäre ich nicht mehr hier. Der Krebs hätte mich zerstört“, sagt Nicole Lieber-Hannes. „Du gehörst jetzt zur Familie.“
Pflanzen und Tiere müssen vorübergehend weichen
Zwei Tage hatte der 33-Jährige damals im Krankenhaus verbringen müssen. Seine Stammzellen wurden ihm unter Vollnarkose aus dem Beckenkamm entnommen. Diese Methode ist mittlerweile selten, sie wird nur noch bei etwa zehn Prozent der Fälle angewendet. Meistens werden die Stammzellen ambulant aus der Blutbahn entnommen. Stefan Drechsler macht kein großes Thema draus. „Ja, ich hatte Schmerzen, aber mein Sturz im Schwimmbad war schlimmer.“
Für Nicole Lieber-Hannes zieht sich die Prozedur länger. Wieder zu Hause, muss sie auf eine sterile Umgebung achten, Pflanzen und Tiere müssen vorübergehend weichen.
Ein ganzes Jahr lang geht es ihr schlecht. Sie erhält Bluttransfusionen, erkrankt immer wieder an Gürtelrose oder Lungenentzündung. Zudem leidet Nicole Lieber-Hannes an starken Abstoßungsreaktionen durch die Transplantation, einer sogenannten chronischen Graft-versus-Host Disease, Spender-gegen-Empfänger-Reaktion. Weil ihre Nieren nicht mehr arbeiten, muss sie dreimal in der Woche zur Dialyse.
Ihren Traum vom Reisen gibt sie nicht auf
„Das Leben ist nicht mehr so, wie es mal war“, sagt sie. Sie kann nicht mehr als Bauzeichnerin arbeiten. Nicht mehr morgens joggen gehen oder eine Fahrradtour mit der Familie machen. Die Pumpleistung ihres Herzens ist auf 35 Prozent gesunken. Nicole Lieber-Hannes hat einen Schwerbehindertenausweis. „Mich damit abzufinden, dass ich nicht mehr normal bin, ist schwer. Man denkt, man kann alles. Und muss dann einsehen, dass es nicht so ist.“
Ihren Traum vom Reisen möchte die 27-Jährige trotz aller gesundheitlichen Probleme nicht aufgeben. Noch in diesem Jahr wird die Familie nach Thailand fliegen. Dreimal in der Woche wird sie an ihrem Urlaubsort in eine Privatklinik gehen, zur Dialyse. Wenn Nicole Lieber-Hannes eins weiß, dann das: „Verschiebe nichts im Leben. Man weiß nie, wann es zu Ende ist.“