Vor 33 Jahren saß sie hier schon einmal: In Stammheim hat am Donnerstag der Prozess gegen das ehemalige RAF-Mitglied Verena Becker begonnen. Foto: dpa

Ihre Vergangenheit lässt Verena Becker nicht los: Seit Donnerstag steht sie vor Gericht.

Stuttgart - Im Autoradio sagen sie, dass heute der Prozess gegen Verena Becker beginnt. Dann spielen sie das alte Lied der Kölschrocker von BAP: "Verdammt lang her". Vor über 33 Jahren wurde Generalbundesanwalt Siegfried Buback von Terroristen der Rote-Armee-Fraktion (RAF) erschossen. Und jetzt wird noch einmal Geschichte gemacht. Vor dem alten Gerichtsgebäude, das vielleicht bald abgerissen wird, warten die Kameramänner auf die Angeklagte, und die Journalisten stehen Schlange. Die Einlasskontrollen sind so streng, als bedrohe die RAF noch immer den deutschen Staat. Nicht einmal seine Uhr darf man mit in den Gerichtssaal nehmen, auch sie kommt in eine durchsichtige Plastiktüte.. "Sie glauben gar nicht", sagt der Polizist, "was in einer Uhr alles drin sein könnte."

Die Reste der Revolution kommen in Gestalt einer jungen Frau daher. Sie verteilt ein Flugblatt eines linksradikalen Netzwerks, das "Freiheit für alle politischen Gefangenen" fordert und beklagt, dass unser Staat mit solchen Prozessen die doch so heldenhafte RAF-Geschichte verfälschen will. Die "Helden" von einst leben heute von Hartz IV. Um kurz vor zehn Uhr betritt Verena Becker den Gerichtssaal. Eine unscheinbare Frau, inzwischen 58 Jahre alt. Rund 15 Jahre ihres Lebens saß sie in Haft. 1972 hatte sie mit einer Bombe einen Bootsmann getötet - angeblich ein Versehen. 1977 schoss sie wild auf Polizisten, die sie festnehmen wollten. 1989 wurde sie von Bundespräsident Richard von Weizsäcker begnadigt.

Becker hat nach früheren Angaben dem Präsidenten damals versprochen, eine Ausbildung zur Heilpraktikerin zu machen. Das tat sie auch, doch dann wurde sie Opfer einer rheumatischen Erkrankung. Ihre Augen sind lichtempfindlich, weshalb sie draußen und teilweise auch im Gerichtssaal eine große Sonnenbrille trägt. Sie habe keine Tränenflüssigkeit mehr und auch keinen Speichelfluss, heißt es vor Gericht. Zu 50 Prozent ist sie inzwischen behindert. Sie lebt in Berlin und bekommt Sozialhilfe.

Nicht mehr ganz von dieser Welt 

Ein Hauch von Wahnsinn umweht diesen Prozess, was vor allem an der Angeklagten liegt. Ihr Vater war mehrfach in der Nervenheilanstalt und starb früh. Ihre Mutter war mit Verena Becker und ihren insgesamt neun Geschwistern überfordert. Schon früh schließt sich Becker einer linksradikalen Kampfgruppe an. Dort sucht sie angeblich Wärme und Anerkennung. Mit der politischen Theorie, so heißt es heute, habe sie es damals nicht so gehabt. Sie war eher für die praktische Seite des Terrors zuständig. Eine Beteiligung am Mord von Buback und seinen zwei Begleitern konnte die Bundesanwaltschaft ihr damals allerdings nicht nachweisen. Inzwischen aber glaubt die Behörde, dies zu können.

Laut Anklageschrift ist Becker nicht mehr ganz von dieser Welt. Sie beschäftigt sich intensiv mit der Philosophie des alten China (I Ging), wirft regelmäßig drei Münzen und nimmt die Antworten dieses Orakels "sehr ernst", wie die Bundesanwaltschaft schreibt. Auf spirituellem Weg sucht sie nach Heilung und wohl irgendwie auch nach Erlösung von ihrer Schuld. Sie hat dazu in den letzten Jahren Aufzeichnungen gemacht, die nun gegen sie verwendet werden. Notizen, in denen sie bekennt, dass sie "für Herrn Buback" noch nicht beten könne, in denen sie von "Täterwissen" redet. Zudem finden die Ermittler 2009 am Bekennerschreiben der RAF zum Buback-Mord Genmaterial, das eindeutig von Becker stammt. Deshalb steht sie nun in Stammheim vor Gericht. Mord verjährt nicht, die Beteiligung an einem Mord auch nicht.

Aufklärung kaum möglich  

Trotzdem ist es irgendwie verrückt, dass nach so vielen Jahren nun ein solcher Aufwand betrieben wird, um die Reste der fehlenden Wahrheit im Fall Buback zu suchen. Wer genau auf ihn geschossen hat, wird auch dieser Prozess wohl nicht aufklären können, und ob man Becker viel wird nachweisen können, ist eher unwahrscheinlich.

Der Vorsitzende Richter des 6. Strafsenats, Hermann Wieland, stellte den Prozess, der voraussichtlich mehrere Monate dauern wird, unter ein fast schon philosophisches Motto. Es gehe um den "Wunsch, für die eigene Vergangenheit Verantwortung zu übernehmen, und den Wunsch, mit sich selbst identisch zu sein". Verena Becker fühlte sich davon nicht angesprochen. Sie schwieg. Und der einzige Zeuge, der geladen war, fehlte wegen Krankheit. Nach rund anderthalb Stunden war daher der erste Prozesstag vorüber. An der Pforte bekam man seine persönlichen Sachen zurück. Was einem am Ende übrig blieb, war eine durchsichtige Plastiktüte voller Luft.