Müßiggang, ob sitzend, liegend oder laufend, ist etwas, das man lernen kann. Foto: dpa

Die Literaturwissenschaftlerin Tina Saum will Menschen in Stuttgart für den müßigen Gang faszinieren.

Stuttgart - Zwischen den Ritzen im grauen Beton sprießt das Unkraut. Es sieht aus, als wäre schon lange niemand mehr da gewesen. Das Plateau zu Füßen des Hochhauses am Charlottenplatz ist wohl nicht nur an einem Sonntagnachmittag ein eher einsamer Ort. Die Sonne brennt auf die Steinplatten, aber Tina Saum hat es sich im Schatten vor dem Hochhaus bequem gemacht. Eine junge Frau an einem ziemlich verlassenen Ort mitten in der Großstadt, das wirkt seltsam. Passanten, die zufällig die Treppe zu dem Plateau hochsteigen, mögen denken, dass der jungen Frau vielleicht schwindelig geworden ist in der Hitze und sie sich deshalb im Schatten ausruht. Oder dass sie sich bewusst zurückgezogen, um ihre Ruhe zu haben.

Beides ist falsch. Denn tatsächlich wartet Tina Saum auf ihre Verabredung mit Unbekannten. Ihnen will sie etwas über das Flanieren beibringen. Der unscheinbare Ort an der stark befahrenen Charlottenstraße sei dafür der passende Ort, sagt Saum. „Ich komme gern hierher, weil ich ständig Neues entdecke.“ Wie das geht, will Tina Saum anderen nahebringen. Sie hat gemeinsam mit der Kulturmanagerin Daniela Metz vor zwei Jahren die Flanerie an der Blumenstraße ins Leben gerufen. Das selbst ernannte „Labor für Gedanken und Gänge“ will die alte Tradition des Flanierens wieder beleben. Sie kam im 19. Jahrhundert in den europäischen Großstädten in Mode und hatte zunächst einen durchaus großbürgerlichen Habitus. Denn die Muße für einen Spaziergang ohne Ziel und Zweck hatten in der Zeit der beginnenden Industrialisierung nur wenige, die musste man sich in dieser Zeit erst verdienen.

Rolle in der Literatur

Im 20. Jahrhundert betrieben Literaten das Flanieren dann mit einer großen Ernsthaftigkeit. Sie wollten gewissermaßen en passant auf einer ziellosen Wanderung durch die Straßen ihrer Stadt mehr herausfinden über die Gesellschaft, die sie einfach stumm beobachteten. Die Flanerie sieht sich in dieser Tradition. Sie organisiert seit ihrer Gründung Touren durch Stuttgart, die allerdings wenig gemeinsam haben mit üblichen Stadtführungen. Die Stadt fand das Konzept der Flanerie so interessant, dass sie deren Arbeit finanziell unterstützt. Vielleicht gefalle den Verantwortlichen die Idee, dass mehr Bürger mit Hilfe der Flanerie einen aufmerksamen Blick für ihre Umgebung entwickeln, vermutet Tina Saum. Allerdings geht es beim Flanieren auch um die Schärfung der eigenen Achtsamkeit. Tina Saum spricht davon, dass die Flaneure ihre Stadt mit allen Sinnen kennenlernen und erleben sollen. Im besten Fall geschehe etwas Magisches, sagt sie. „Dann wird der Moment, den ich erlebe, unmittelbar“, sagt sie. Die Flanerie will Menschen helfen, im hektischen Alltag die Ruhe für das bewusst ziellose Umherstreifen in ihrer Heimatstadt zu finden.

Denn Flanieren will geübt sein. An diesem Sonntag bietet Tina Saum etwas an, was sich als Grundkurs beschreiben lässt. Er stellt auch das Ende des Projekts der Flanerie-Forschungsreihe Umwege & Unorte dar. Dabei haben Künstler und Wissenschaftler gemeinsam verschiedene Aktionen durchgeführt. Die Schlussveranstaltung „Flanieren von A bis Z“ will nun allen, die dazu Lust haben, zunächst etwas über die Geschichte des Flanieren vermitteln. Nach der Theorie erfolgt die Praxis. „Die Leute können sich eine Straße oder einen Platz aussuchen und sollen ihn eine Stunde lang erkunden. Dann kommen sie zurück und berichten, was sie beobachtet haben“, sagt Saum. Um den Einstieg zu erleichtern, sollen die Menschen auch in Gruppen losziehen dürfen, sagt Saum. „Eigentlich ist Flanieren schon etwas, das jeder für sich tun sollte, aber um die Leute auf den Geschmack zu bringen, machen wir eben auch Kompromisse“, sagt Saum.

Leider macht die Sommerhitze der passionierten Flaneurin einen Strich durch die Rechnung. Die Flanerie hatte unter anderem auf dem sozialen Netzwerk Facebook für die Veranstaltung geworben. Doch das schöne Wetter scheinen viele lieber auf dem Balkon oder im Biergarten genießen zu wollen, als auf einer Wanderung durch die Stadt. Tina Saum gibt schließlich die Hoffnung auf, das zukünftige Flaneure ihren Weg auf das Plateau an der Charlottenstraße finden. Bei den übrigen Veranstaltungen im Rahmen der Forschungsreihe seien sehr viele Menschen gekommen, sagt sie. Sie wird ihre freie Zeit sicher nutzen können. Etwa, um selbst noch ein bisschen durch die Stadt zu streifen.