Sie suchen die Bücher aus: Alexandra Kirchner, Marion Hekmann und Philipp Merth (von links). Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Es ist ein wunderschönes Gebäude. Eines, das Stuttgart schmückt und auch noch nach zehn Jahren in jedem Architekturführer als eine der schönsten Büchereien der Welt auftaucht. Doch die Stadtbibliothek ist mehr als nur ein Hingucker. Wer füllt eigentlich das Haus mit Büchern?

Stuttgart - Zehn Jahre gibt es sie nun schon, die Stadtbibliothek am Mailänder Platz. Das von Architekt Eun Young Yi entworfene Haus ist umgehend eines der Stuttgarter Wahrzeichengeworden.

 

Viel ist geschrieben und geredet worden über die Possen und Macken, das Zubauen des Gebäudes, das Trockenlegen des Wasserbeckens und die fehlenden Aufzüge, aber was ist eigentlich das Wichtigste an einer Bücherei? Genau, die Bücher. Oder die Medien, wie man heutzutage sagt. Wird Wissen und Unterhaltendes doch heutzutage auch anders gesammelt und weitergegeben als nur in gedruckter Form. Doch wer bestimmt eigentlich, was in der Bücherei steht? Wer hat die 500 000 Medien für die Stadtbücherei besorgt und die weiteren 650 000, die in den 18 Stadtteilbüchereien und den zwei Büchereibussen auf Nutzer warten? Darunter sind 833 592 Bücher.

Was machen die Lektoren?

Es sind Menschen wie Marion Hekmann vom Direktionsteam und die Lektoren Alexandra Kirchner und Philipp Merth. Sie haben sich stellvertretend für ihre knapp 30 Kollegen Zeit genommen, um über ihre Arbeit zu reden. Sie sind jeweils zuständig für verschiedene Themen, Merth etwa betreut Deutsch als Fremdsprache, Kirchner beschäftigt sich als Leiterin der Ebene Leben mit Hauswirtschaft, Garten und Medizin.

Wie viel Geld dürfen sie ausgeben?

1,7 Millionen Euro im Jahr dürfen sie ausgeben für Neues. Zehn Prozent Rabatt bekommen sie auf klassische Bücher, E-Books bieten die Verlage aber meist später oder sogar teurer an, sagt Hekmann. Da will man sich das Geschäft nicht verderben lassen. Aber wie wählen die Lektoren neue Medien aus? Natürlich beobachten sie, was ausgeliehen wird. Sie reagieren auf Wünsche der Nutzer. Sie schauen die Verlagsprogramme durch, haben Zugang zu Datenbanken und zu Informationsdiensten, die speziell für öffentliche Büchereien arbeiten. Sogar als eine Art Karteikärtchen gibt es die Infos noch, Kirchner hat einige dabei. „Dann beobachten wir, was Trend ist“, sagt sie. In ihrem Bereich ist das natürlich vegetarisches oder veganes Kochen. Während Corona waren dann die Garten-Bücher ständig ausgeliehen.

Wer leiht was aus?

So spiegeln sich der Zeitgeist, aber auch die Struktur der Stadt im Angebot wider. Das Alter, den Wohlstand, die Bildung und die Wohnverhältnisse kann herauslesen, wer schaut, was in den Stadtteilbüchereien im Regal steht. Da beeinflussen sich Angebot und Nachfrage gegenseitig. Kirchner war Leiterin der Stadtteilbibliothek Bad Cannstatt, und in der Zweigstelle an der Überkinger Straße nahe der Altstadt seien Gartenbücher eher weniger gefragt gewesen. An der Bücherei am Kneippweg hingegen waren sie oft ausgeliehen. Was natürlich daran liegt, dass dort wohlhabendere Menschen wohnen, die entweder ein Häuschen haben oder zumindest einen Garten am Mehrfamilienhaus.

Welche Sprache hat Englisch überholt?

Auch im Bereich von Philipp Merth spiegelt sich die Stadt wider. „In Neugereut werden viele russische Bücher ausgeliehen, in Vaihingen eher französische“, sagt er. Heißt, in Neugereut sind viele Aussiedler zu Hause, während in Vaihingen das Bildungsbürgertum wohnt, das eine Fremdsprache lernen will oder pflegt. Und seit 2015 die Flüchtlinge kamen, ist der Bedarf an Büchern, die Deutsch als Fremdsprache lehren, enorm gewachsen und hat jetzt erstmals die Ausleihe von Englisch als Fremdsprache überholt. „Wir haben 40-mal ,Mit Erfolg zu Telc Deutsch 2‘ im Bestand“, erzählt er. Arabische Bücher haben sie beschafft. Auch als Mittel der Integration. So lernen die neuen Stuttgarter das Haus und das Konzept einer öffentlichen Bibliothek kennen. Sie bringen ihre Kinder mit, die wiederum Bücher ausleihen, dann auch deutsche Kinderbücher.

Was passiert bei Führungen?

Dass dies keine entrückte Vorstellung sei, sondern tatsächlich Alltag, bekräftigen alle drei. Merth macht Führungen, speziell auch für Syrer, und sieht „die Menschen dann auch tatsächlich kommen“. Ein junger Mann habe mittels ausgeliehener Bücher Deutsch gelernt und sei später gekommen, nachdem er einen Job im IT-Bereich bekommen hatte, um sich zu bedanken.

Dies zeigt: Die 350 Mitarbeiter der Stadtbücherei verstehen sich nun wahrlich nicht als Hüter der höheren Bildung und Literatur, sondern möchten nach außen wirken. So macht man Führungen mit Erziehern und Pflegekräften, kooperiert mit der Hedwig-Dohm-Schule, der Berufsschule für Ernährung, Hauswirtschaft und Soziales. „Gerade im Bereich Medizin und Pädagogik veraltet Wissen schnell, sind Bücher nicht mehr aktuell“, sagt Kirchner. Da müssten die Lektoren die Entwicklungen ständig im Auge behalten. Da sei es schon hilfreich, „dass die Kollegin, die die Psychologie betreut, auch Psychologie studiert hat“.

Was geschieht bei Spezialgebieten?

Genauso aufmerksam muss man andere Entwicklungen im Auge behalten. So sind die Bücher des Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Winterhoff ohnehin schon umstritten. Aber da gilt Hekmanns Satz: „Wir bieten die Möglichkeit, sich eine eigene Meinung zu verschaffen.“ Also sortiert man Bücher nicht bei jeder Diskussion aus. Bei Winterhoff besteht allerdings der Anfangsverdacht der schweren Körperverletzung. Patienten werfen dem Arzt vor, ihnen ohne Diagnose Neuroleptika verschrieben zu haben. Damit behandelt man etwa Schizophrenie. Sollte sich dies bewahrheiten, wird man Winterhoffs Bücher nochmals kritisch betrachten müssen.

Was sind Erinnerungskoffer?

Doch es gibt mehr als nur Bücher. Hörbücher und CDs klar, auch die Online-Ausleihe wird von den Lektoren bestückt, aber Kirchner betreut etwa sogenannte Erinnerungskoffer. Diese widmen sich einem Thema, Weihnachten etwa, Spielen oder Haustieren, den 50er Jahren. Gefüllt sind sie mit Gegenständen aus Kindheit und Jugend und sollen bei Demenzkranken die Erinnerung anregen. Sie wird es bald in der Bücherei zum Ausleihen geben, nicht nur für Einrichtungen, sondern für jeden Nutzer.

Das zeigt, man will mehr sein als nur eine schöne Hülle, ein Denkmal, eine Attraktion. Sondern in die Stadt hinauswirken, mehr denn je – nach zehn Jahren.

Das Jubiläum

Feiern
Die großen Feiern hat man auf den September 2022 verschoben. Am Samstag, 23. Oktober, gibt es um 14 Uhr stattdessen ein Balkonkonzert am Mailänder Platz. Von 14 bis 16 Uhr gibt es einen Spaziergang rund um die Stadtbibliothek. Bitte Smartphone und Tablet mitbringen. Von 9 Uhr an werden die Höhepunkte des Trickfilmfestivals gezeigt. Das Brick-Figurentheater zeigt von 17 Uhr an „Die Schlacht um Troja“. Zudem stellt die Bücherei die Erinnerungskoffer vor und Daisy-Hörbücher für sehbehinderte Menschen.