Herausforderung für jede Kompanie: Ensembleszene aus „Spartacus“ Foto: Wilfried Hösl

Das Bayerische Staatsballett hat einen monumentalen Klassiker aus der Sowjet-Ära entstaubt: Yuri Grigorovichs „Spartacus“-Choreografie. Ein Meilenstein, ob es einem gefällt oder nicht.

München - Sollten im Münchner Nationaltheater noch irgendwo Reste lyrischer Wolken aus der Ära von Ballettdirektor Ivan Liska durch die Ränge gezogen sein, so sind diese nun gründlich zerstäubt: „Spartacus“ hat die Spielstätte mit Donnerhall durchfegt. Ein Sowjet-Schinken? Es ist wahr, der Dauerbrenner des Bolschoi-Balletts aus den Sechzigern, wo Yuri Grigorovich aus dem Stoff um den aufständischen Gladiator eine gültige Choreografie geschaffen hat, ist pathetisch und bombastisch. Eine Steilvorlage für jeden, der damit ein politisches System untermauern will. Doch gleichzeitig ist „Spartacus“ so schwierig und schnell und eine solch atemberaubende wie kräftezehrende Herausforderung für eine Ballettkompanie, dass der politische Aspekt dahinter verschwindet. „Wahnsinn“, lautete das Urteil nicht weniger Zuschauer, die kopfschüttelnd durch die Pause taumelten.

Ein monumentales Bühnenbild, entworfen von Simon Virsaladze, empfängt das Publikum, mit hohen grauen Säulen und Mauern. Alles zieht sich zum Himmel, sogar Spartacus‘ Zelt ist so hoch wie drei Männer. Unter normalen Umständen würde so eine Bühne als museal belächelt, doch hier ist sie nötig, denn jede feinere Kulisse würde vor den Gruppenszenen unsichtbar. Kampferprobte Römer in Rüstung und mit Schilden treten auf, fliegend, marschierend, zum Schlag ausholend, ununterbrochen wirbelnd, und neben ihnen leidende Sklaven, klagend, sich beugend und windend. Aram Khatschaturians Musik, in Perfektion dirigiert von Karen Durgaryan, treibt das Geschehen mit ganzem Percussions-Einsatz an. Es herrscht ein ständiges, überlebensgroßes Jagen und Streben – nach Macht auf römischer Seite, nach Freiheit auf thrakischer Sklavenseite. An den Spitzen der jeweiligen Gruppen stehen die Antagonisten des Stücks: Spartacus, in der Premiere getanzt von Osiel Guneo, sowie der römische Feldherr Crassus in der Gestalt von Sergej Polunin.

Figuren in Lichtgeschwindigkeit

Für Polunin ist es ein Rollendebüt an diesem Abend. Eine dankbare Rolle ist Crassus nicht unbedingt – Grigorovich hat ihn ziemlich einseitig als arroganten, mordlüsternen und auf Orgien versessenen Krieger (damals wohl: Kapitalisten) gezeichnet. Oft darf er, vom Sieg träumend, mit dem Schwert herumfuchteln. Allerdings ist die Rolle auch sprunggewaltig. Insgesamt also eine ideale Sache für den begnadeten Tänzer Polunin, der doch viel lieber Filmschauspieler wäre und hier die Gelegenheit hat, einen schwachen Charakter stark zu gestalten. Das tut er auch mit technischer Bravour. Seine schwierigsten Sprungsequenzen zeigt er so kraftvoll und leicht, als würde er reden, mit Schwerkraft hat er wie immer nichts zu schaffen. Darstellerisch bleibt er jedoch unter seinen Möglichkeiten. Sein Crassus ist von Selbstverliebtheit und Raserei getrieben, die Augen funkeln stählern. Gegenüber seiner Geliebten Aegina zeigt er sich begehrlich, aber ohne Verliebtheit. Wenigstens in diesen Szenen sollte er doch Gefühl zeigen, denn ein Bösewicht ohne verwundbare Stelle hat nun mal wenig seelische Größe. Man wünscht sich, Polunins Herz würde endlich für den Tanz entflammen. Geschähe dies, würde das seinen sicheren Platz im Olymp der Künste bedeuten – den er im Moment noch zu Gunsten Hollywoods verschmäht.

Und so kommt es, dass seine Partnerin Natalia Osipova Polunin in den gemeinsamen Szenen einfach davon tanzt. Auch ihre Rolle der Aegina ist von sagenhafter Komplexität, die schnelle Fußarbeit ihrer in Goldlicht getauchten Verführungs-Defilees ist mit den Augen fast schon nicht mehr zu verfolgen, gleichzeitig präsentiert sie in Lichtgeschwindigkeit Épaulements, Ports-de-bras sowie ein siegessicher lächelndes, gelegentlich auch von Zweifeln und Machthunger gequältes Gesicht. Es ist schwer vorstellbar, dass eine andere Tänzerin als sie diese Rolle bewältigt – die kommenden Besetzungen werden eine spannende Sache.

Spekatkuläre Hebungen

Der Held des Abends ist aber Osiel Guneo. Der in München neue Kubaner hat nichts mehr zu befürchten, das Publikum hat ihn für seinen Spartacus ab sofort ins Herz geschlossen. Er füllt seine Kombinationen mit wildem Leben, jeder Sprung ist eine Flucht weg aus den Ketten, hinein in eine bessere Zukunft in Freiheit, die für ihn freilich nie kommt – Crassus und seine Römer spießen ihn zuletzt in einer blutigen Szene auf. Fast zehn Minuten währt Spartacus‘ Variation vor seinen Aufständischen im ersten Akt, und Guneo startet jeden Flug und jede Landung überaus exakt, seine Pirouetten dreht er schön wie Ahornpropeller im Wind.

In den Pas-de-deux mit seiner Phrygia Ivy Amista kommt die Essenz der ganzen Spartacus-Choreografie bestens zum Vorschein: Es ist ein expressionistisches Stück, eine ungestüme, ganz und gar nicht süßliche Liebeserklärung an den Wahnwitz der menschlichen Existenz, an sein ewiges Leiden und Aufbäumen. Das zeigen Phrygias Arabesken mit gebeugtem Standbein, ihre mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Ohr hoch gezogenen Beine, ihre Menagen mit Fäusten vor der Brust. Und nicht zuletzt eine Reihe spektakulärer Hebungen, deren Höhepunkt Ivy Amista in einer vierten Arabesk hoch über der Bühne ist, gehalten nur von einer Hand Guneos. In der Schlussszene heben die Aufständischen Phrygia über Spartakus‘ Leiche, der sie den Schild auf die Brust legt. Wie eine Göttin ruft sie mit erhobenen Armen zum fortgesetzten Widerstand auf, getrieben vom Schmerz einer einfachen Frau. Ivy Amista hat zuletzt schon als Myrtha Weltklasse gezeigt, hier festigt sie die überragende Qualität, zu der sie in Igor Zelenskys Truppe gefunden hat.

Ob man an der alten Geschichte nun Gefallen findet oder nicht, der Münchner „Spartacus“ ist ein Meilenstein. Es ist fraglich, ob sich je eine andere westliche Kompanie dieser in archaischen Bildern erzählten Tour de Force annimmt, denn sie ist nur enorm schwer zu bewältigen. Es braucht junge, sehr kräftige und versierte Tänzer, dazu Anleitung aus dem Umfeld Grigorovichs sowie einen erfahrenen Dirigenten, um sie zu stemmen. Am Bayerischen Staatsballettkam alles zusammen – auf das Ergebnis kann die Kompanie stolz sein.