Foto: Torsten Graff

Ciudad Rodrigo liegt fürchterlich und zugleich wunderbar abseits konventioneller Routen in Spanien.

Seit meiner frühesten Kindheit war das kastilische Landstädtchen Ciudad Rodrigo Chiffre einer mir selbst unverständlichen, aber drängenden Sehnsucht. Da ich mich ohnehin in der Nähe, nämlich im prächtigen Salamanca aufhielt, war es eine Selbstverständlichkeit, zweihundert Kilometer Umweg in Kauf zu nehmen, um Ciudad Rodrigo zu besuchen.

Es sei gleich zu Beginn gesagt: Die Sehnsucht ist nicht gestillt, sie hat sich vielmehr verstärkt und wird mich wohl ein Leben lang begleiten und immer wieder in den Hauptort des westlichen Campo Charro zurückführen. Dort ist man, von wenigen spanischen Tagesausflüglern und einer Handvoll kulturinteressierter französischer Ehepaare abgesehen, nahezu allein unter den Einheimischen, mit denen man am Abend auf der herrlich atmosphärischen und lebhaften Plaza Mayor bei Tapas und Vino Tinto schnell ins Gespräch kommt und von ihnen Geschichten erfährt, die man in keinem Reiseführer findet.

Historisch betrachtet ist Ciudad Rodrigo das Zentrum eines Gebietes zwischen Kastilien und Portugal, und wenn man ganz ehrlich ist, muss man zugestehen, dass das Landstädtchen eigentlich immer unbedeutend war. Es ist das alte keltische Mirobriga, man kann in der Umgebung Dolmen und einiges andere anschauen, wenn man eine Neigung für Keltiberisches hat. Nachdem die Stadt aufgrund ihrer Lage im ständig umkämpften Niemandsland zwischen Christen und Mauren vollkommen entvölkert war, wurde sie im Jahre 1110 von Rodrigo González Girón wieder besiedelt, um die neue kastilische Südgrenze am Río Tajo zu sichern. Noch heute trägt die Stadt den Namen des Grafen, der sie im Zuge der Reconquista mit neuem Leben füllte.

Da Ciudad Rodrigo in der Folgezeit als Grenzfeste gegen Portugal und das maurische Almohadenreich diente, wurde es noch im 12. Jahrhundert von einer über zwei Kilometer langen und bis zu 13 Meter hohen Mauer umschlossen. Aber trotz dieser Aufrüstung wollte sich hier einfach nichts Bedeutendes zutragen. Nur wenn die Kastilier mal wieder einen Vorwand gefunden hatten, in Portugal einzufallen, war in dem Städtchen mächtig was los. Ciudad Rodrigo sitzt seit dem 12.Jahrhundert ritterlich herausgeputzt in den historischen Startblöcken, aber es fällt kein Schuss, und so ist es zu einem steinernen Anachronismus geworden.

Nur wenig hat sich seit dem späten 16.Jahrhundert, als die Adelsgeschlechter hier ihre Stadtresidenzen errichten ließen, verändert, und so steht die Stadt mit vollständig erhaltener Mauer, Burg aus dem 14. Jahrhundert (heute ein geschmackvoll historisierendes Paradorhotel), zahllosen Renaissance-Palästen und einer der schönsten Kathedralen Spaniens da wie Traum und Kulisse längst vergangener Zeiten. Wenn sich die Fassaden und Türme der Stadt im warmen Licht des Nachmittags goldgelb färben und der Reisende durch die Gassen geht oder aber von der Stadtmauer auf die Stadt hinabblickt, so bietet sich ein vollkommenes Bild, eine architektonische Feier der perfekten Oberfläche.

Diese Oberfläche, für die man sich sehr viel Zeit nehmen sollte, setzt sich vor allem aus den stilsicheren und selbstbewusst zurückgenommenen Fassaden und Portalen der Renaissance-Paläste zusammen. Meist sind dezente Dekorationsfriese und ein fein gearbeitetes Familienwappen zwischen Zierpilastern die einzigen dekorativen Elemente, und so hat an diesem Ort der einstmals herbe und strenge Stolz der kastilischen Aristokratie die Zeit in Stein gehauen überdauert.

Ein weiterer Höhepunkt in Ciudad Rodrigo ist der Besuch der Catedral de Santa María, die den Übergang der Romanik zur Gotik markiert und durch das atemberaubende, im Chor einem himmlischen Blütenkelch gleichende Netzgewölbe, das Chorgestühl mit seinen heidnischen Bildfeldern, das wunderschöne Kreuzigungsretabel Fernando Gallegos im Hauptchor und den schlicht-kontemplativen Kreuzgang besticht. Und schließlich gibt es in der Kathedrale zwei figurale Kompositionen, die jeden Umweg lohnen, den Pórtico del Perdón, der trotz Einschusslöchern der napoleonischen Truppen gut erhalten ist, und die gotische Bogengalerie über der romanisch-byzantinischen Puerta de las Cadenas. Das Bogenfeld des Vergebungstores aus dem späten 13. Jahrhundert ist in drei Szenen geteilt: Das untere Feld zeigt den Einzug Jesu in Jerusalem, das Letzte Abendmahl und die Kreuzigung, das mittlere Schlaf und Himmelfahrt, das obere die Krönung Mariens.

Zudem beeindrucken die meisterhaft gearbeiteten Kapitelle, die Szenen aus dem Leben Franz von Assisis zeigen, so die Predigt vor den Vögeln und die Vision der Stigmata. Der Pórtico del Perdón ist von einer narrativen Dichte, die dem Betrachter den Kosmos des späten Mittelalters nahezu vollständig erschließt. In der Bogengalerie über der Puerta de las Cadenas stehen die Skulpturen der zwölf Apostel in reich dekorierten gotischen Nischen. Jede dieser Apostelskulpturen, die um 1230 entstanden sind, ist das Attribut einer Figur aus dem Alten Testament zugeordnet: Abraham, Jesaja, die Königin von Saba, Salomon, David und andere. Hier ist das christliche Verhältnis von Altem zu Neuem Testament zugleich schön und grausam in Stein gehauen: Inkorporation und Überschreibung.

Doch es gibt auch an diesem Bauwerk zwei höchst unpassende Anbauten, die ich unverzüglich mit bloßen Händen niedergerissen hätte, wenn mich dies nicht auf direktem Wege in ein spanisches Gefängnis geführt hätte. Der Glockenturm aus dem 18. Jahrhundert ist dem Kirchenschiff wie ein obszönes Horn aufgepfropft, und die barocke Capilla del Pilar klebt wie eine Warze auf der Südfassade gleich links des Wunders, das die Puerta de Cadenas ist. Nun, nichts und niemand ist perfekt, auch Ciudad Rodrigo nicht. Aber das tut meiner Sehnsucht keinen Abbruch.

Die Leserreise

Der Leser Torsten Graff (42) wohnt in Ludwigsburg, hat Literaturwissenschaft studiert und arbeitet freiberuflich als Coach und Trainer. Zurzeit schreibt Graff ein historisches Reisebuch über Spanien und Portugal. Er interessiert sich für Literatur, Kunst, Geschichte. Größte Leidenschaft ist das Reisen.

Die Reise Der Besuch in Ciudad Rodrigo war Teil einer Spanien-Individualreise durch Aragonien, Kastilien und die Extremadura. Ciudad Rodrigo hat eine informative Website für kulturinteressierte Reisende: http://www.turismociudadrodrigo.com (nur in spanischer Sprache).

Beste Reisezeit: Juni und September. Route: Flug nach Madrid, dann mit dem Mietwagen: Segovia–Sepúlveda–Peñafiel–Olmedo–Tordesillas–Toro–Zamora–Salamanca–Ciudad Rodrigo–Sierra de Francia–Ávila–Toledo–Guadalupe–Trujillo– Cáceres–Madrid (Rückflug). Dauer: zwei Wochen, Kosten: insgesamt ca. 3.000 Euro.

Highlights sind die Weltkulturerbestädte (Salamanca, Ávila, Segovia, Toledo, Cáceres, Baeza, Úbeda), aber meine Favoriten sind Peñafiel, Toro, Tordesillas, Almazán, Trujillo und Ciudad Rodrigo. Infos zu Spanien: www.spain.info/?l=de