Volker Grimm und und Dagmar Rost vom SOS-Kinderdorf in Schorndorf-Oberberken Foto: Gottfried /Stoppel

Seit wenigen Monaten gibt es im SOS-Kinderdorf eine Gruppe für Kinder, deren Wohl gefährdet ist und die vorübergehend aus ihren Familien genommen wurden, weil vernachlässigt oder sogar missbraucht werden. Der Andrang auf die Einrichtung ist riesig – leider.

Wenn das Zuhause nicht mehr sicher ist und alle Stricke reißen, finden Kinder Halt in Oberberken. Seit wenigen Monaten gibt es oben auf Schorndorfs Höhen im SOS-Kinderdorf eine neue Wohngruppe, in der Kinder bis zwölf Jahre vorübergehend Sicherheit und Geborgenheit finden – in einer sogenannten Inobhutnahme-Gruppe. Der Bedarf ist riesig, sagt Bereichsleiter Volker Grimm. Die Gruppe war für acht Plätze ausgelegt. Eigentlich. Im Oktober eröffnet, ist sie bereits seit Dezember überbelegt. Nahezu täglich erhält der stellvertretende Leiter des Kinderdorfes Anrufe aus allen Ecken der Republik. Es melden sich Jugendämter, die dringend einen Platz benötigen. „Es ist, als würden Sie einen Handwerker suchen, und müssten erst 80 Betriebe anrufen, um einen zu finden, der ihr Problem repariert“, beschreibt er die Situation der Behörden. Ändern kann er das nicht. Die Gruppe in Schorndorf ist ausschließlich für Kinder aus dem Landkreis.

Wohl der Kinder gefährdet

Grundsätzlich können Jugendämter Jugendliche und Kinder kurzfristig in Obhut nehmen, wenn sie deren Wohl als gefährdet ansehen, erklärt Dagmar Rost vom Pädagogischen Fachdienst und Fall-Managerin im SOS-Kinderdorf. „Meist geschieht das wegen Vernachlässigung oder Misshandlung, aber auch dann, wenn sich Eltern physisch und psychisch überfordert fühlen, um für ihre Kinder zu sorgen.“ Eskaliert die Situation in den Familien unerwartet, so dass eine Inobhutnahme nötig wird, müsse es schnell gehen, um Schaden von den Kindern abzuwehren. „Das ist meist nichts Geplantes, da steht dann plötzlich das Jugendamt vor der Türe oder die Eltern melden sich, weil sie es nicht mehr schaffen“, sagt Rost.

Über eine Inobhutnahme entscheiden Mitarbeiter des Jugendamts, im Vordergrund stehe dabei die Sicherheit und das Wohl der Kinder. Und für die sei auch die neue Situation nicht einfach, sagt Volker Grimm: „Das ist eine wirkliche Krise – ein Dreijähriger versteht nicht, warum er plötzlich an einem fremden Ort unter fremden Menschen ist.“ Die Kinder reagierten auf die Extremsituation höchst unterschiedlich: „Manche haben Wutausbrüche und schmeißen Sachen, andere werden stumm, ziehen sich zurück, manche werden total anhänglich, die einen essen gar nichts, andere zu viel.“

Positive Erfahrungen sammeln

Dankbar sei er für seine erfahrenen und engagierten Fachkräfte, allesamt Frauen: „Sie geben ihr ganzes Herz, um die Bedürfnisse der Kinder zu stillen.“ Es gehe nicht in erster Linie um die Erziehung, sondern darum, dass die Kinder lernten, dass Bezugspersonen positiv auf sie reagierten, und dass sie spürten, dass sie an einem sicheren und Platz seien, wo sie Geborgenheit fänden. „Sie lernen: Ich bin für dich da und ich bin nicht gefährlich für dich.“

Dauer nicht befristet

Besuche der Eltern auf dem Gelände finden nicht statt. Können unter Umständen, je nach Falllage, aber auch außerhalb des Kinderdorfs stattfinden. Kontakte per Telefon oder Video seien ebenfalls möglich. Wie lange die Kinder in der Schorndorfer Einrichtung bleiben, sei unterschiedlich und hänge vom jeweiligen Einzelfall ab. „Wir hatten einen Fall, da wurde eine Mutter in einem Zug unerwartet krank, und wir mussten uns um die Kinder kümmern, solange sie im Krankenhaus war – diese Kinder konnten nach zwei Tagen schon wieder heim.“ In den meisten Fällen dauerten die Aufenthalte allerdings länger, und es gebe auch Kinder, die seien seit Oktober in der Wohngruppe. „Die Aufenthaltsdauer hier ist nicht definiert“, erklärt der Bereichsleiter. „Ideal wäre, wenn die Kinder so kurz wie möglich bleiben, aber wir wollen sie auch nicht von einer Krise in die nächste stürzen.“ Daher sei es wichtig, erst für jedes einzelne Kind eine geeignete Anschlussperspektive, etwa in einer Jugendhilfeeinrichtung, zu finden, ehe es die Gruppe wieder verlässt.

Die Entscheidung, wann und wie es für die Kinder nach der Zeit in Oberberken weitergehe, treffe das zuständige Jugendamt zusammen mit den Sorgeberechtigten nach Rücksprache mit Fachkräften des Kinderdorfs und freilich auch unter Einbeziehung der Kinder, sofern sie alt genug dafür seien. Im besten Fall könnten die Kinder wieder zu ihren Eltern zurück. „Das Ziel der Jugendämter ist es, mit den Eltern zusammenzuarbeiten und nicht gegen sie“, sagt Dagmar Rost.

Pflegefamilien gesucht

Eine wichtige Rolle spielten allerdings auch Pflegefamilien, wo manche Kinder ein neues Zuhause fänden. Jedoch gebe es nach wie vor zu wenig Pflegefamilien. Beide Pädagogen sind der Meinung, dass es noch mehr niederschwellige Hilfsangebote für Kinder und Familien im Landkreis geben sollte. Von Seiten betroffener Eltern würden sie sich wünschen, dass diese die bestehenden Angebote der Jugendhilfeeinrichtungen bei Bedarf rechtzeitig für sich nutzten. Volker Grimm: „Sich professionelle Hilfe zu holen, ist immer gut – besser früher als später.“

Inobhutnahme und Pflegefamilien

Neue Gruppe
 Im SOS-Kinderdorf Schorndorf wurden acht Plätze für Null- bis Zwölfjährige geschaffen. In der Paulinenpflege Winnenden gibt es eine weitere Gruppe für 13- bis 18-Jährige. Hier stehen ebenfalls acht Plätze zur Verfügung.

Angespannte Situation
Die Inobhutnahme-Gruppen haben laut Kreisverwaltung eine Entlastung beziehungsweise Entspannung in der aktuellen angespannten Situation bewirkt. Allerdings können auch diese Gruppen an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Die Situation im Bereich der stationären Inobhutnahme sei somit nach wie vor angespannt. Ein Trend hinsichtlich der Gründe für die Inobhutnahmen lasse sich aus Sicht der Kreisverwaltung nicht erkennen.

Pflegefamilien
Ende 2023 gab es im Rems-Murr-Kreis insgesamt 187 Pflegefamilien und 236 Pflegekinder. Gesucht werden nach wie vor Pflegefamilien. Wer sich näher dafür interessiert, kann sich an dass Kreisjugendamt wenden unter Telefon 071 91/895-44 60.