Irland hängt am Tropf der EU, viele junge Menschen suchen ihr Glück im Ausland.

Dublin - Irlands Schicksal scheint exakt vermessen - in Schulden, Zinsraten, Fristen und Sparmaßnahmen. Doch die menschlichen Kosten der Krise werden ganz woanders bewältigt: In einer Suppenküche des Kapuzinerordens holen sich Aufsteiger aus Boomtagen jeden Mittwoch ein paar Lebensmittelspenden ab.

Es hat die ganze Nacht geschneit in Dublin. Jetzt, am frühen Morgen, sind die Straßen kaum passierbar. Schulen bleiben geschlossen, Busse im Depot, Angestellte zu Hause. In der Bow Street jedoch hat sich trotz der Minusgrade schon seit dem Morgengrauen eine lange Menschenschlange am Capuchin Day Centre gebildet. Den Blick weg aus dem eisigen Wind zur Mauer gedreht, harren die Ersten darauf, dass es 9Uhr schlägt.

Drinnen leitet Bruder Kevin Crowley Dutzende Freiwillige an. Sie verteilen Reis, Bohnen, Zucker und Tee in Tüten. Crowley hat die Suppenküche vor 40 Jahren gegründet. Seitdem lesen sich seine Mühen wie eine soziale Chronik Irlands: In den Siebzigern klopften nach der Schließung vieler psychiatrischer Krankenhäuser die Obdachlosen bei ihm an, in den Achtzigern kamen Arbeitslose, in den Neunzigern Drogenabhängige aus Dublins Zentrum und zur Jahrtausendwende Einwanderer aus Osteuropa, die im boomenden Irland ihr Glück suchen wollten, aber erst einmal eine warme Mahlzeit brauchten. Die größte Herausforderung für den Geistlichen aber ist die derzeitige Wirtschaftskrise.

Zwischen Obdachlose udn Alkoholiker reihen sich Gutgekleidete und junge Familien

Vor seiner Tür warten an diesem Mittwochmorgen nicht nur Obdachlose, Alkoholiker oder Rentner, deren magere Pension bei Frosttagen fürs Heizen draufgeht. Es sind ganz gewöhnliche Leute, die sich in die Schlange einreihen - jene Gutgekleideten, die man morgens auch auf dem Weg zur Arbeit im Bus treffen würde, junge Familien, ältere Frauen, ein Mann mit Brille und akkurater Frisur. "Wir nennen sie die neuen Armen", sagt Bruder Kevin, "Menschen, denen nichts übrig bleibt, wenn sie ihren Hauskredit oder ihre Miete beglichen haben." Menschen, die jahrelang dafür gesorgt haben, dass der Keltische Tiger schnurrt und bei Kräften bleibt.

Bauarbeiter aus Rumänien und der Ukraine stehen hier im Schnee, Frauen, die zu Boomzeiten auch ohne Schulabschluss zwischen gut bezahlten Jobs wählen konnten. "70.000 Euro Jahresgehalt waren für einen Bauarbeiter auf dem Höhepunkt des irischen Wirtschaftswunders durchaus realistisch", sagt Justin O'Connor (Name geändert) mit einem leisen Lächeln. Der 52-Jährige verteilt an diesem Morgen die Lebensmitteltüten an die Wartenden. Über 1000 Stück werden es bis 11 Uhr sein - fast doppelt so viele wie zu Beginn der Krise vor drei Jahren. Auch er, Inhaber einer Betonbohrfirma mit ehemals 40 Mitarbeitern, kann seinen Hauskredit nur noch bis März zahlen.

30.000 Bauruinen gibt es mittlerweile in Irland, leere oder halbfertige Häuser, deren Besitzern das Geld ausgegangen ist und für die sich sobald keine neuen Käufer finden. O'Connor hat sie mit errichtet - wie auch die anderen Wahrzeichen des kurzen Wohlstands auf der Insel: Dublins polierte, neue Hafenfront entlang des Flüsschens Liffey, dazu ein futuristischer Flughafen-Terminal. Heute präsidiert er über ein Geisterunternehmen. "Ich musste alle Mitarbeiter entlassen", erzählt er, "doch das Bürogebäude, den Fuhrpark und die Maschinen gibt es noch. Alles ist startbereit - nur Aufträge gibt es keine mehr." Zahlungsaußenstände von Bauträgern haben O'Connor in den Ruin getrieben. Er sei zwar schuldenfrei, sagt er, habe aber auch kein Erspartes mehr: "Wir haben alle ausbezahlt, außer uns selbst."

15 Milliarden Euro muss Irland bis 2014 sparen 

Klagen will der freiwillige Helfer des Kapuzinerordens nicht: "Die Arbeit in der Suppenküche rückt den Blickwinkel zurecht." Doch er weiß, dass es nur eine kurze Rutschpartie ist, bevor es ihm so gehen könnte wie einigen Freunden aus der bröckelnden Mittelschicht der Stadt: Um zu kleinen Aushilfsjobs zu gelangen, fahren sie in Autos, die nicht angemeldet oder versichert sind. "Nach dem Gerichtsvollzieher kommen die Ehe- und Alkoholprobleme", sagt O'Connor, "man schämt sich, fühlt sich schuldig fürs eigene Versagen."

Die Regierung beginnt, den Haushalt für das Jahr 2011 festzuzurren. Was den Iren bevorsteht, ist seit dem Vier-Jahres-Plan, den Ministerpräsident Brian Cowen den EU-Finanzbehörden vorlegen musste, kein Geheimnis mehr: 15 Milliarden Euro will das kleine Land bis 2014 sparen, nachdem eine Summe in gleicher Höhe bereits in den vergangenen drei Jahren gekürzt wurde. Erst recht trifft es nun die Mittelschicht: Wasser- und Studiengebühren werden teurer, auf Immobilien fallen höhere Steuern an. 25000 Jobs im öffentlichen Dienst fallen weg. "Die Leute sind absolut panisch", sagt Bruder Kevin Crowley. Jeder Zehnte verschuldet sich schon jetzt, um seine Lebenshaltungskosten zu decken, jeder Vierte kann seine Stromrechnung nicht pünktlich begleichen.

Längst haben die Vorgaben und Kontrollen durch ausländische Institutionen eine emotionale Debatte über das Selbstverständnis Irlands entzündet. "Sind unsere Vorväter 1916 dafür gestorben, dass uns die deutsche Bundeskanzlerin aus der Klemme hilft, unterstützt durch ein paar Trostgroschen der Briten?", fragte die "Irish Times" in einem Leitartikel. "Das Bild, dass von draußen Menschen ins Land kommen, um uns zu führen, scheint wie ein düsteres Echo vergangener Tage", erklärt Colm Tíibân, einer der führenden Autoren Irlands.

Bis 2015 kehren schätzungsweise 200.000 junge Menschen ihrer Heimat den Rücken

Auch die massive Abwanderung junger Iren weckt Erinnerungen an Armutszeiten, die man auf der Insel längst überstanden glaubte. Mit 65000 Wegzügen im Jahr 2009 hat Irlands Auswandererquote erstmals wieder den Stand der achtziger Jahre erreicht - 2015, wenn das irische Budget ausgeglichen sein könnte, werden schätzungsweise 200.000 gut ausgebildete Nachwuchskräfte vor der Krise geflohen sein. Jan O'Sullivan, Labour-Abgeordnete des einst boomenden IT-Standortes Limerick, berichtet von Familien, deren Kinder allesamt nach England, Kanada und Australien gezogen sind. "Traurig ist das", sagt sie, "diese Krise, auch wenn sie in sechs oder sieben Jahren abbezahlt ist, wird Irland verändern."

Doch bei aller Kritik am EU-Rettungspaket, das Oppositionsparteien wegen der "unsolidarischen" Zinsrate von 5,8 Prozent mehr als "Versailler Vertrag denn als Marshallplan" sehen, begrüßen viele Iren den anstehenden Wandel geradezu. "Die Unabhängigkeit hat Irland ein politisches System beschert, in dem Talent wenig zählt", sagt Autor Tíibân, "Ministerpräsident, Stellvertreter, Finanzminister und der Chef der Opposition kommen alle aus Parlamentarierfamilien - sie scheinen ihre Mandate zu vererben." Dem nationalen Interesse habe das spürbar geschadet.

Für die Verabschiedung des Haushalts hat das Parlament sich noch einmal zusammengerauft, bis März jedoch soll neu gewählt werden. Die konservative Langzeitmacht Finna FÖil muss dabei mit einer herben Niederlage rechnen. In jüngsten Umfragen könnte sie jeden dritten Sitz und damit die Mehrheit an Labour verlieren.

Negativkultur gegenseitiger Gefälligkeiten, Transparenzmangel und Demokratiedefizite

Viele hoffen, dass der Internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank die Landesfinanzen und damit auch den Parteienfilz bereinigen. Politik, die in einem Zelt am Rande des alljährlichen Pferderennens von Galway gemacht wird, soll es jedenfalls nicht mehr geben - hier hielt Fienna FÖil Hof für Parteisponsoren, die nur allzu oft bekannte Baufirmen waren. Solange die Wirtschaft brummte, hat sich niemand an solchen zwielichtigen Partnerschaften gestört. Jetzt, wo vielen Iren dämmert, dass dieses Kartell listiger Katzen den Keltischen Tiger erlegt hat, steht der Begriff des "Galway-Zelts" für eine Negativkultur gegenseitiger Gefälligkeiten, Transparenzmangel und Demokratiedefizite.

Dennoch wird jede neue Regierung weiter im EU-Zwangskorsett navigieren müssen. Doch die Labour-Abgeordnete O'Sullivan ist zuversichtlich, Zinshöhe und Konditionen fürs Rettungspaket nachverhandeln und so genügend Geld für die Stimulation der Wirtschaft lockermachen zu können. "Eines ist klar", sagt sie, "mit 5,8 Prozent Zinsen kann die Wirtschaft nicht wachsen. Doch die Opfer und Härten bringen nichts, wenn es nicht wenigstens Hoffnung auf bessere Zeiten gibt."