Tom Araya, Sänge rund Bassist von Slayer Foto: www.mauritius-images.com

Kann man am Tag nach dem Terror von Paris eine Band wie die US-Thrash-Legende Slayer bejubeln, deren komplettes Oevre sich um Mord und Totschlag dreht? 4000 Zuschauer haben das in der ausverkauften Ludwigsburger MHP Arena für sich selbst entschieden. Auch das ist ein unverhandelbarer Teil von Freiheit.

Ludwigsburg - Kann man am Tag nach dem Terror von Paris eine Band wie die US-Thrash-Legende Slayer bejubeln, deren komplettes Oevre sich um Mord und Totschlag dreht? 4000 Zuschauer haben das in der ausverkauften Ludwigsburger MHP Arena für sich selbst entschieden. Auch das ist ein unverhandelbarer Teil von Freiheit.

Es war der Versuch, noch während der grausamen Nacht von Paris auf andere Gedanken zu kommen, bessere Gedanken, etwas, das hoffen lässt, zum Schmunzeln oder gar zum Lachen verführt, um wenigstens für einen kurzen Moment die hässliche Realität zu vergessen. Doch da war nichts Schönes – lediglich Dunkelheit. Es ist menschlich. Und auch dadurch erklären sich Künstler wie die US-Thrash-Metal-Legende Slayer.

Deren komplettes Oevre dreht sich seit über 30 Jahren um Hass, Krieg, Niedertracht, Mord und Totschlag. Slayer beschreiben das Schlechte aus Sicht des Täters. Manchmal nur des morbiden Effekts wegen, aber oft auch um das Böse greifbar zu machen. Zur Wahrheitsfindung trägt das in etwa genauso viel bei wie das Gegenteil: Anteilnahme. Es ist lediglich eine Art, mit der Fassungslosigkeit umzugehen, mit der einen die Realität oft alleine zurück lässt.

Slayer tragen die Wut im Bauch, nicht im Hirn

„Ruhe!“, sagt Tom Araya als er alleine vor der Menge steht, „Ruhe!“. Doch es will keine Ruhe einkehren, irgendjemand schreit immer. „Sllaaayyeerrr“ oder „Yeah“. „Hört ihr das? Hört ihr diese Ruhe? Genau das hatten sie gestern im Sinn. Genau das ist gestern Nacht passiert. Gestern. Letzte Nacht. Sie haben versucht uns alle zum Schweigen zu bringen.“ Und plötzlich kehrt sie tatsächlich für einen kurzen Moment unter den 4000 Zuschauern ein: Stille. „Wir sollten alle frei sein. Wir sollten alle die Freiheit genießen, uns zu amüsieren, Spaß zu haben. Denn das Leben ist etwas Besonderes.“ Dann bricht ein Sturm des Jubels los und „War Ensemble“ – als würden sich Wut, Angst, Trauer und Hass gleichzeitig entladen. Dennoch: Slayer tragen die Wut im Bauch, nicht im Hirn. Das ist ein großer Unterschied.

Der bullige Gitarrist Kerry King prügelt mit aller Sorgfalt jeden einzelnen Ton in die Halle. An seiner Lederhose hängen Ketten, mit denen andere Leute LKWs abschleppen würden. Hinter der Bühne prangen mannshohe Umgedrehte Kreuze, es flackern Pentagramme – auch den pubertären Satans-Quatsch pflegen Slayer fast liebevoll.

Exodus-Gitarrist Gary Holt, der den 2013 verstorbenen Jeff Hannemann ersetzt und Dave Lombardo-Nachfolger Paul Bostaph am Schlagzeug übernehmen dankbar und machen diese Inkarnation von Slayer zu einem wahren Genuss. Wo in den vergangenen Jahren die Leidenschaft fehlte, spielt das kalifornische Quartett 2015 derart erbarmungslos auf den Punkt, wie seit den 1990er-Jahren nicht mehr. Eine Naturgewalt.

Die New Yorker Thrash-Pioniere Anthrax spielen sich ebenfalls in einen Rausch aus Riffs

Es ist die Band, die „War!“ durch die Halle schreit, weil sich das gut brüllen lässt und später trotzdem ein Stück spielt, das Soldaten als dem Staat verpflichtete Selbstmörder hinterfragt – „Mandatory Suicide“ heißt das dann. Oder „God Send Death“, ein Stück über Terror, der Religion als Legitimation vor sich her trägt. Wer Fäuste hat, reckt sie zum Himmel, wer die Zeilen kennt, schreit sie in die gleiche Richtung. „God Hates Us All“, brüllt Araya im phantastischen „Disciple“. Dennoch: An Tagen, an denen die Welt von Slayer sich mit dem Inhalt der Tagesschau deckt, muss man festhalten, dass der Mensch versagt hat. Also, wir alle. Zusammen. Manchmal erfinden Slayer dafür auch eigens neue Kraftworte: „Repentless“ zum Beispiel. Es steht in keinem Lexikon, ist aber das Gegenteil von „Buße tun“. Ihre neue Platte heißt so.

Anthrax-Gitarrist Scott Ian drückte seine private Schockstarre in der Nacht via Twitter so aus: „Küsse deine Kinder, umarme deinen Partner und hoffe, dass irgendwer, irgendwo einen Plan hat.“ In der MHP Arena sagt der New Yorker: „Vergesst bitte niemals: Das ist eine freie Welt“, dann spielen Anthrax „Antisocial“, im Original von der französischen Hardrock-Band Trust. Ein Lied aus den 1980er-Jahren – über den Zerfall der Gesellschaft. Die New Yorker Thrash-Pioniere spielen sich an diesem Abend ebenfalls in einen annähernd sagenhaften Rausch aus Riffs, Ablenkung und pointierter Wut. Kvelertak, dem Sextett aus Norwegen, blieb zuvor zumindest der Druck versagt. Nur ausgemachte Fans erkennen auf Anhieb famose Lieder wie „Offernat“ oder „Blodtørst“. Mehr lässt der Soundbrei nicht zu. Einige singen dennoch mit – trotz norwegischer Texte.

Als Slayer ihre Fans nach über 90 Minuten wieder der Welt da draußen überlassen, sagt Tom Araya auf Deutsch: „Auf Wiedersehen“. Zwei simple Worte, die zusammen so vieles über die Schönheit des Lebens und Freiheit erklären.

Twittereintrag von Scott Ian (Anthrax)

Kiss your kids, hug your partner and hope somebody somewhere has a plan.— Scott Ian (@Scott_Ian) November 14, 2015