Auf neue Perspektiven setzt Tübingens Kunsthallendirektorin Nicole Fritz Foto: Kay Walkowiak

Kann Kunst „Sexy“ und „Cool“ sein? Nicole Fritz will es mit ihrer ersten Schau als Direktorin der Kunsthalle Tübingen beweisen. StN-Autor Nikolai B. Forstbauer hat sich vor Ort umgesehen.

Stuttgart - Perfekt unperfekt sind die Linien über das Papier gezogen. Systematisch und doch von eigener Sinnlichkeit. Linien zwischen Rot und Braun, stockend, durchlaufend, atmend und doch auch wieder verdichtet. Die sieben Blätter von Sylvia Bächli spielen so selbstverständlich mit 100 Jahre Kunstgeschichte, als wolle Nicole Fritz zum Auftakt ihrer ersten Schau als Direktorin der Kunsthalle Tübingen deutlich machen, dass eine Ausstellung – wie groß angelegt sie auch ist – doch immer über sich hinausweist.

Der Künstler als Alpinist

Bächlis „Red Grid V“ ist Zeichnung, ist Malerei – und ist doch kongeniales Echo auf einen scheinbar heroischen Aufstieg in alpines Gelände. Kay Walkowiak inszeniert diesen in eigentümlich farbgesättigtem Schwarz-Weiß. Ein Mann mit einem weiß gestrichenen Rechteckholz zieht seine Spur, seine Linie, den Berg hinauf, stoppt hin und wieder. Unsicherheit aber zeigt er nicht. Er geht in diesem „Requiem“ kühn voran.

Mehr als Ironie

Nur Ironie? Oder doch auch Sinnbild einer anhaltend um Behauptung kreisenden männlichen Gegenwartskunst? Nicole Fritz lässt dieses – wie manch anderes – in ihrer ersten Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen offen. Seit 1. Januar ist Fritz im Amt, die Hoffnung auf einen Neuantritt der Kunsthalle verbindet sich mit ihr, und der Ausstellungstitel „Sexy and Cool“ mag Manche und Mancher hoffnungsfroh als Programm verstehen.

Dabei haben Fritz und ihre Co-Kuratorin Kristina Groß anderes im Sinn. „Minimal goes Emotional“ ist der Untertitel der Ausstellung, gezeigt werden soll nicht weniger, als die Fortschreibung des Minimalen in der Kunst mit den Mitteln der Emotionalisierung.

Alte Trennschärfen werden aufgehoben

Das klingt kompliziert? Es ist kompliziert, auch, weil Fritz und Groß in der historischen Herleitung die Trennschärfe einer um eine absolute Beschränkung von Form und Material bemühten Kunst aufheben. Wer sich auf die um Erweiterung des Kunstwerks bemühte Beteiligung des Publikums im Schaffen von Franz Erhard Walther beruft und diese ebenso wie die Ensemble-Strukturen von Eva Hesse als Ausgangspunkt der unterstellten Fortschreibung und Erweiterung des Minimal nimmt, schürt Erwartungen.

Erwartungen, die sich weit in das Feld des künstlerischen Konzeptes bewegen, Erwartungen die weit mehr noch mit Handlung, denn mit dem Unterlaufen einer betonten formalen Strenge zu tun hat.

Wie lebt die Minimal Kunst weiter?

Kay Walkowiak und Sylvia Bächli sind Haltepunkte auf dieser Spur. Doch diese Spur verfestigt sich nicht, wird – in der möglichen Überprüfung etwa der Positionen von Pipilotti Rist, Gabriela Oberkofler oder Simone Westerwinter – nicht weiter verfolgt. Das ist konsequent, fragt doch „Sexy and Cool. Minimal goes Emotional“ nicht nach der Fortführung der Konzept-Kunst, sondern „nach dem Nachleben der Minimal Art in der Gegenwart“.

Feierliche Klarheit war gestern

Nach dem Nachleben einer Kunst also, die – anders als das auf Handlung und auf Bezugssysteme von Sprache angelegte Konzept – der Stilvielfalt der beginnenden 1960er Jahre noch einmal neue Heiligtümer entgegenstellte. Eine fast feierliche Klarheit, einen rigorosen Anspruch ausschließlicher Gültigkeit. Künstlernamen wie Dan Flavin, Donald Judd, Carl Andre oder Sol LeWitt verbinden sich mit dieser Kunst, die sich widerstreitend erst, aber dann doch im Erfolg verbunden unter der Begriffsflagge „Minimal“ zusammenfand.

Ironie und Präzision

Grob verkürzt gesagt, macht „Sexy and Cool“ deutlich: Mit Ironie, aber auch mit Präzisierung entwickelt eine neue Künstlergeneration das Erbe des Minimal weiter. Mit Ironie wie Sylvie Fleury – wenn sie etwa eigentümlich wuchernde Formen über vermeintliche Aluminium-Rechtecke von Donald Judd legt. Mit Präzision, wenn Adel Abdessemed zwei Kreise auf eine Wand aufbringt, die sich bei näherem Hinschauen als Stacheldraht-Rund erweisen. Mehr Gegenwart-Kommentar geht kaum.

Abdessemeds „Sphere I“ ist nicht weniger bewegend als Sylvia Bächlis „Red Grid V“, Kay Walkowiaks „Requiem“, Beate Terfloths „Neonkreis“ oder auch Franz Erhard Walthers „Form L“. Letztere stammt aus der Daimler Art Collection und ist zugleich inhaltlicher Verweis auf die Arbeit der Sammlungsverantwortlichen Renate Wiehager. „Minimalism and After“ machte Wiehager ja zu einer ganzen Ausstellungsfolge.

Die Frage als eigene Qualität

Was also kann Nicole Fritz neu in die Diskussion einbringen? Die Frage. Die Frage nach der Gültigkeit einer vermeintlich absoluten Form, Haltung oder Position. Und in der Frage, die etwa Christiane Löhr zu feinsten Installationen aus Pflanzenstängeln führt, schließt sich denn auch der Kreis dieser Ausstellung von Franz Erhard Walther und Eva Hesse bin hin zu Lara Favarettos zur eigenen Auflösung drängenden Quader aus farbigem Konfetti. Mit der Frage verbindet sich eine Sinnlichkeit, die sich von der Feier des Materials löst und sich auf die Untiefen der Emotion einlässt.

Nicole Fritz vertraut der Kunst

Ist dies männlich beziehungsweise weiblich? Nicole Fritz stellt es zur Diskussion. Und zeigt doch mit ihrer Antrittsschau „Sexy and Cool“, die so wunderbar unaufgeregt, aber aufregend mit einer Werkreihe von Ruth Root beginnt, vor allem dies: Sie vertraut der Kunst, gibt ihr Raum und macht mit ihrem Parcours doch zugleich die enormen Eigenqualitäten der sanierten und erweiterten Kunsthalle Tübingen deutlich. Durchblicke auf ein vermeintlich gelbes Stoffquadrat (von Jenni Tischer) und eine raumhohe Gitterstruktur (von Heike Weber) machen die Räume der Kunsthalle selbst zu Bildern einer Ausstellung. Deren Unschärfe dürfen die Besucher als Aufforderung zur Positionierung verstehen.

Zur Person: Nicole Fritz und die Kunsthalle Tübingen

Seit 1. Januar ist Nicole Fritz, zuvor Gründungsdirektorin des Kunstmuseums Ravensburg, Direktorin der Kunsthalle Tübingen und alleiniger Vorstand der Kunsthalle Tübingen.

„Sexy and Cool. Minimal goes Emotional“ ist von diesem Samstag, 24. März, an in der Kunsthalle Tübingen zu sehen (Eröffnung am 23. März um 19 Uhr). Die Themenschau präsentiert ein Panorama internationaler Gegenwartskunst, die sich mit Positionen der Minimal-Kunst der 1960er Jahre beschäftigt.

„Sexy and Cool. Minimal goes Emotional“ ist bis zum 1. Juli zu sehen (Di bis So 11-18 Uhr, Do 11-19 Uhr. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 5 Euro). Nicht zuletzt die Partnerschaft mit der Baden-Württemberg Stiftung, der Baden-Württembergischen Bank und der Kreissparkasse Tübingen ermöglicht ein umfangreiches Begleitprogramm. Öffentliche Führungen gibt es jeden Donnerstag um 17.30 Uhr sowie samstags und sonntags um 15 Uhr. Jeden Sonntag gibt es von 14 bis 17 Uhr unter dem Titel „Kunsthalle für Kids“ besondere Angebote für Kinder von 6 bis 12 Jahren.

Der empfehlenswerte Katalog (Kerber-Verlag) kostet 25 Euro.