Die 2010er Jahre waren das Jahrzehnt der Serienjunkies: Von „Game of Thrones“ bis „The Marvelous Mrs. Maisel“, von „Orange is the New Black“ bis „Stranger Things“. Nie zuvor gab es so viele gute TV-Serien. Wir küren die zwölf besten und wichtigsten der Jahre 2010 bis 2019.
Stuttgart - Willkommen im Zeitalter der Couch-Potatoes! In den zehner Jahren ist das Wohnzimmer der neue Kinosaal, und TV-Serien sind die neuen Autorenfilme. Schuld daran ist ein Unterhaltungskonzern aus dem kalifornischen Los Gatos, der erst das Fernseh- und dann das Kinogeschäft aufmischt: Netflix.
Der Streamingdienst hat einen Serienboom ausgelöst und von diesem enorm profitiert – im Jahr 2018 etwa hat er 15,8 Milliarden Dollar (14,3 Milliarden Euro) umgesetzt. Dank der Internet-Videotheken, die inzwischen neben Netflix zum Beispiel auch Amazon, Sky, Magenta TV oder Apple TV+ im Angebot haben, sind wir alle unsere eigenen Fernsehchefs. Wir schauen, was wir wollen, wann immer wir es wollen. Wir verschlingen Serienstaffeln am liebsten am Stück und haben deshalb den Ausdruck Binge-Watching (Komaglotzen) in unseren aktiven Wortschatz übernommen.
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Kurioserweise stemmt sich gegen den damit verbundenen Trend, die einzelnen Episoden einer Serienstaffel nicht Woche für Woche, sondern auf einmal zu veröffentlichen, ausgerechnet die erfolgreichste Fernsehserie dieses Jahrzehnts, das Fantasy-Epos „Game of Thrones“, bei dem die Ausstrahlung jeder Folge bis zum großen Finale im Mai 2019 als Großereignis gefeiert wird.
Deutschland erwacht aus dem TV-Serien-Dornröschenschlaf
Immer mehr Oscar-prämierte Regisseure und Schauspieler wenden sich in den zehner Jahren vom Kino ab, um fürs Fernsehen zu arbeiten – von Martin Scorsese über Jane Campion bis Steven Soderbergh, von Maggie Smith über Matthew McConaughey bis Anna Paquin. Der Autorenfilm findet mehr und mehr bei Netflix und Co. ein Zuhause, und das Kino versucht mit großem Getöse von der Krise abzulenken, die die Qualitätsoffensive des Fernsehens auslöst, füllt die Leinwand mit immer mehr Superhelden aus dem Universum des Marvel-Comicverlags und setzt die „Star Wars“-Saga fort.
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Doch während es im Kino donnert, blitzt und kracht, wacht allmählich tatsächlich auch das Serienfernsehen in Deutschland aus dem Dornröschenschlaf auf. Bevor Netflix im Jahr 2014 hierzulande startet, kann kaum eine deutsche Serie mit internationalen Produktionen mithalten. Inzwischen beweisen die Mysteryserie „Dark“, der 1920er-Jahre-Krimi „Babylon Berlin“ und die Serienfassung des Kriegsfilms „Das Boot“, dass endlich auch Deutschland ein Herz für Couch-Potatoes hat.
Doch welche TV-Serien bleiben am Ende übrig aus den zehner Jahren? Unser TV-Kritiker Gunther Reinhardt stellt die seiner Meinung nach zwölf besten und wichtigsten Serien dieses Jahrzehnts vor – Serien, die das Zeug dazu haben, zu Klassikern zu werden.
Haben Sie es eilig? Dann können Sie sich hier durch die Bildergalerie bis zum Spitzenreiter klicken. Wer etwas Zeit mitbringt und mehr über die zwölf besten Serien des Jahrzehnts erfahren will, liest hier einfach weiter.
Platz 12: Mr. Robot (2015-2019)
In einem Konferenzraum aus Stahl, Glas und Beton treffen zwei Nerds aufeinander. Der eine heißt Elliot Anderson (Rami Malek), arbeitet als IT-Spezialist in der auf Cybersecurity spezialisierten Firma Allsafe und hat sich gerade der anarchistischen Hackergruppe fsociety angeschlossen. Der andere heißt Tyrell Wellick (Martin Wallström) und ist der ehrgeizige Senior Vice President des Technologiekonzerns E Corp, den Elliot stets Evil Corp nennt. Draußen vor dem Fenster zeigt sich die große weite Welt in Form der Skyline von New York City zwar von ihrer atemberaubenden Seite. Doch die Kamera interessiert sich mehr für die graublaue Geometrie des Raums und die beiden Männer, die sich in die Antagonisten einer antiken Tragödie verwandeln, die – während das Allegretto aus Beethovens 7. Sinfonie die Fallhöhe vorgibt – in den kühl komponierten symmetrischen Bildern einander ausgeliefert sind.
Wer nicht schon in der Pilotepisode von „Mr. Robot“ gemerkt hat, dass diese Serie kein konventioneller Hacker-Thriller ist, der ist spätestens nach diesem szenischen Meisterwerk zu Beginn der zweiten Folge, bei der Showrunner Sam Esmail selbst Regie geführt hat, schlauer. Bei „Mr. Robot“ treffen „American Psycho“ und „Fight Club“ aufeinander. Denn mit Elliot erfindet die Serie einen neuen Hackertypus: Einen soziophoben Junkie mit dissoziativer Verhaltensstörung, der mit weit aufgerissenen Augen mitten hinein in eine Verschwörungsgeschichte stolpert, bei der es darum geht, das globale Finanzsystem zum Einsturz zu bringen. Elliot wird zum auktorialen Erzähler der Serie, der aber seine eigene Geschichte immer wieder infrage stellt und sich selbst nie sicher ist, ob er gerade nur eine seiner Morphium-Fantasien ausschmückt. Als Elliot und Tyrell in der neunten Episode wieder einmal aufeinandertreffen und die Pixies-Nummer „Where Is My Mind?“ erklingt, ahnt man, dass alles noch viel komplizierter ist, als man gedacht hat.
Platz 11: Orange is the New Black (2013-2019)
Vor kurzem hat Piper Chapman noch ein unbeschwertes Leben als Managerin in New York City geführt, mit ihrem Verlobten Larry den spießigen Traum der US-amerikanischen Mittelklasse geträumt. Jetzt beugt sie sich in einem hässlich-kargen Zimmer mit heruntergelassener Hose über einen Tisch. „Spreiz‘ deine Pobacken und huste für mich“, sagt die grimmig dreinblickende Polizistin, die hinter ihr steht. Und Pipers ungläubig-angewiderte Nachfrage, „Jetzt wirklich?“, bleibt unbeantwortet. Willkommen im Litchfield Penitentiary!
Es gab schon vor „Orange is the New Black“ gute Knastserien. Tom Fontanas Gefängnisdrama „Oz – Hölle hinter Gittern“ (1997–2003) zum Beispiel, das am Anfang der Qualitätsserien-Strategie von HBO stand. Oder den Ausbrecher-Thriller „Prison Break“ (2005–2009). Wenn sich bisher Serien oder Filme in den Frauenknast verirrten, ging es aber eigentlich immer schlüpfrig oder trashig zu. Und zu den fiesen Späßen, die sich Jenji Kohans Netflix-Serie „Orange is the New Black“ erlaubt, zählt, dass sie einem anfangs weismacht, kein Sexploitation-Klischee auslassen zu wollen – Lesbensex, Drogenhandel, Prostitution und die obligatorischen Szenen in der Gemeinschaftsdusche inklusive.
Doch dann kommt alles anders. Kohan, die schon in „Weeds“ eine in den Vorstädten angesiedelte kuriose Good-Girl-Gone-Bad-Story erzählte, macht schnell klar, dass Piper (Taylor Schilling), die zu 15 Monaten Haft verurteilt wird, weil sie vor vielen Jahren für ihre damalige Freundin Alex (Laura Prepon) Drogengeld geschmuggelt hat, eigentlich kein bisschen anders als all die anderen Insassen des Litchfield-Frauengefängnisses ist. Während sich Piper einlebt und heimlich einen Handel mit ungewaschener Unterwäsche aufbaut, werden in Rückblenden die Vorgeschichten all der anderen Frauen erzählt, die auch einmal ein ganz normales Leben geführt haben. Ganz gleich ob sie Weiße, Schwarze, Latinos, Asiaten sind. Nebenbei wird „Orange is the New Black“ so zu einem Spiegel der US-Gesellschaft, und der Serie gelingt es, spielerisch leicht die Diversität in Szene zu setzen, an der Hollywood immer wieder kläglich scheitert.
Platz 10: The Newsroom (2012-2014)
Will McAvoy ist stoned. Ausgerechnet am 2. Mai 2011. Es ist der Tag, an dem Barack Obama verkünden wird, dass die Navy Seals Osama bin Laden erschossen haben. ACN-Anchorman McAvoy hetzt von einer Party ins Studio, faselt fröhlich Blödsinn – und seine Redakteure müssen ihm Zettel mit der Aufschrift „Osama = Bad“ und „Obama = Good“ hinlegen, damit er die Namen nicht verwechselt. Doch das Wunder geschieht: Als „News Night“ auf Sendung geht, und McAvoy – ein paar Minuten bevor Obama ans Pult tritt – seinen Zuschauern bereits verrät, dass bin Laden tot ist, hat er sich auf einmal in den souverän-seriösen Nachrichtenmann zurückverwandelt.
Aaron Sorkin, der sich McAvoy und die HBO-Serie „The Newsroom“ ausgedacht hat, ist ein ziemlicher Besserwisser. Einer, der einem schon die Politik („The West Wing“) oder das Internet (Drehbuch für „The Social Media“) erklärt hat, und der jetzt weiß, wie Journalismus geht. „The Newsroom“ erzählt aus dem Alltag einer TV-Nachrichtenredaktion, vom Idealismus und von moralischer Integrität. Doch weil keiner so kunstvoll schlaumeiert wie Sorkin, verzeiht man ihm den erhobenen Zeigefinger jedes Mal.
Auf insgesamt drei Staffeln bringt es die Serie „The Newsroom“, die klug aus dem Alltag einer TV-Nachrichtenredaktion, vom Idealismus und von moralischer Integrität erzählt. Jeff Daniels war nie besser als in der Rolle des jovialen Anchormans Will McAvoy. Dieser steht zwar im Zentrum der Serie, die sich gerne auch an realen Newsstorys abarbeitete – von der Ölpest im Golf von Mexiko bis Fukushima. Doch Sorkins Serie ist vor allem ein brillantes Ensembledrama. „The Newsroom“ bringt virtuos das Politische und das Private, die Geschichten, der viel zu netten Redakteurin Maggie (Alison Pill), der viel zu hübschen Wirtschaftsexpertin Sloan (Olivia Munn) und ihres viel zu guten Chefs Charlie (Sam Waterston) durcheinander. Und manchmal vergisst Sorkin zwischendurch sogar, dass er ja eigentlich erklären wollte, wie Journalismus geht.
Platz 9: Unbreakable Kimmy Schmidt (2015-2019)
„Ich habe vor langer Zeit gelernt, dass man alles für zehn Sekunden aushalten kann. Du zählst einfach auf zehn, und wenn du fertig bist, fängst du wieder an, auf zehn zu zählen. In solchen Zehn-Sekunden-Häppchen lässt sich alles aushalten.” Kimmy Schmidt hatte ausgiebig Gelegenheit, auf zehn zu zählen. Sie war 15 als sie von Richard Wayne Gary Wayne, der seine eigene Weltuntergangssekte gegründet hat, entführt und mit drei anderen Frauen in einem Bunker gesperrt wurde. 15 Jahre später werden sie befreit, die Welt ist nicht untergegangen und Kimmy beginnt in New York ein neues Leben.
Tina Fey, die TV-Zuschauern sieben Jahre lang mit „30 Rock“ sehr viel Spaß gemacht hat, lässt jetzt die unkaputtbare Kimmy Schmidt (Ellie Kemper) auf New York City los. Wie dieses daueroptimistische Stehaufmädchen, das die vielen Jahre als Maulwurfsfrau in Indiana scheinbar völlig unbeschadet überstanden hat, sich neugierig und unvoreingenommen auf das die neue Situation einstellt, Missverständnisse in neue Verabschiedungsrituale verwandelt („Troll The Respawn, Jeremy!“) und metropolitane Absurditäten entlarvt, ist einfach grandios. Sie erweist sich dabei (nicht nur wegen ihres Namens) als eine Verwandte von James Stewart in Frank Capras „Mr. Smith geht nach Washington“, aber auch als ein Pendant zu Peter Sellers in Hal Ashbys „Willkommen Mr. Chance“ – eine Frau, die ihre Weltwissen aus dem Fernsehen und für jede Lebenslage eine Patentlösung hat.
Und kaum hat man sich daran gewöhnt, wie „Unbreakable Kimmy Schmidt“ die Großstadtneurosen der Lächerlichkeit preisgegeben werden, macht diese herrlich mit Popkulturverweisen verzierte Satire einen Ausflug nach Indiana und verwandelt sich zu einer bizarren Provinzposse, bei der einem kuriose Gastauftritte beschert werden: Jon Hamm („Mad Men“) spielt den vor Gericht stehenden Entführer Richard Wayne Gary Wayne und Tina Fey mimt mit gruseliger Miniplifrisur die absolut unfähige Anklägerin.
Platz 8: Borgen – Gefährliche Seilschaften (2010-2013)
Kannst du die Macht übernehmen und dir dennoch treu bleiben? Diese Frage bildet den Kern der dänischen TV-Serie „Borgen“ (2010–2013), die zum Besten zählt, was das europäische Fernsehen in diesem Jahrzehnt hinbekommen hat. Adam Price erzählt in den auf drei Staffeln verteilten 30 Episoden von Birgitte Nyborg (Sidse Babett Knudsen), die unverhofft dänische Premierministerin wird und feststellen muss, wie schwer es ist, sich nicht die Hände schmutzig zu machen. Es geht dabei um die Verflechtung zwischen Medien und der Politik, um Korruption und Machthunger, Intrigen und Skandale werden mal abgewehrt, mal erfunden. Und spätestens wenn ein US-Flugzeug mit Guantánamo-Häftlingen auf Grönland notlanden muss, scheitert die Idealistin Nyborg an den realpolitischen Zwängen.
Was bleibt, ist das Streben nach Wahrhaftigkeit. Adam Price will in „Borgen“ die Mechanismen der Macht offenlegen, erfindet einen humanistischen Gegenentwurf zu der US-Serie „House of Cards“: Während der machthungrige Underwood über Leichen geht, ist Nyborg nicht bereit, die Moral der Macht zu opfern. Dieses Ethos wird nicht nur auf politischer Ebene, wenn sich Nyborg mit Verbündeten und Widersachern verhandelt, sondern auch in den Zeitungs- und Fernsehredaktionen immer wieder neu auf die Probe gestellt. Die Frage, ob einem Qualitätsjournalismus oder die Einschaltquote wichtiger ist, verhandelt „Borgen“ anhand von Nyborgs Gegenpart, der Journalistin Katrine Fønsmark (Birgitte Hjort Sørensen), die erst für den Fernsehsender TV1 und dann für die Zeitung Ekspress arbeitet.
Platz 7: Homeland (seit 2011)
Das Kino kann sich an der Weite der Landschaft, am endlosen Horizont berauschen, sich mit spektakulären Kamerafahrten in die Welt hinabstürzen. Das Fernsehen ist dagegen auch im Zeitalter hochauflösender Bilder immer noch dann am besten, wenn es nicht die Weite, sondern die Enge sucht, wenn es ganz nah dran ist am Empfinden seiner Protagonisten. Selten war Fernsehen deshalb besser als im Finale der ersten Staffel der US-Thrillerserie „Homeland“.
Nicholas Brody (Damian Lewis) ist ein Sergeant der US-Armee, der 2003 im Irak gefangen genommen, gefoltert wurde und viele Jahre allein in einem trostlosen Verließ verbracht hat. Acht Jahre später befreit ihn zwar ein Einsatzkommando. Doch Brody ist nicht mehr der Mann, der er einmal war. Er gilt zwar nach seiner Rückkehr als Held, die CIA-Agentin Carrie Mathison (Claire Danes) misstraut ihm aber, glaubt, dass er nun selbst ein El-Kaida-Terrorist ist und einen Anschlag plant. Und so kommt es, dass Brody im Finale der ersten „Homeland“-Staffel erneut eingesperrt ist. Zusammen mit der gesamten US-Politelite ist er nach einem missglückten Attentat in einen Bunker geflohen. Es ist kaum zu ertragen, die psychischen Qualen mitanzusehen, die Brody erleidet.
Die erschütternde Bunker-Szene hat Damian Lewis 2012 den Emmy als bester Hauptdarsteller in einer Dramaserie eingebracht. Die Szene ist bis heute der erschütterndste Moment der Serie, die auf der israelischen TV-Produktion „Hatufim“ beruht und drastisch den Common Sense der US-amerikanischen Gesellschaft infrage stellt. „Homeland“ wagt die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, mit El Kaida, mit der Bespitzelung der eigenen Bevölkerung unter dem Vorwand der Gewährleistung der eigenen Sicherheit und hat sogar die Courage, die Rollen von Gut und Böse nicht ganz so eindeutig zu verteilen, wie sich das die meisten US-amerikanischen Politiker wünschen würden. Zwar muss „Homeland“ seit der vierten Staffel ohne Damian Lewis auskommen, doch zum Glück ist auch Claire Danes CIA-Agentin Mathison innerlich zerrissen.
Platz 6: House of Cards (2013–2018)
Die zehner Jahre waren auch das Jahrzehnt der Shakespeare-Jubiläen. Kaum hat man sich von all den Hamlets, Othellos, Lears, Richards und Romeos und Julias erholt, die einem das Jahr 2014 zu Shakespeares 450. Geburtstag beschert hat, da schwappte schon die nächste Shakespeare-Welle über: Jährte sich doch 2016 sein Todestag zum 400. Mal. Aber eigentlich ist ja jedes Jahr ein Shakespeare-Jahr. Schließlich sind seine Werke unkaputtbar. Sie lauern einem immer und überall auf – im Kino, in Comics, in Videospielen, auf großen wie auf kleinen Bühnen. Man kann Shakespeare singen, tanzen, ihn zur Teeniekomödie, zum Science-Fiction-Drama machen, Hamlet in einen Serienrocker („Sons of Anarchy“) und König Lear in einen Serienmusikmogul („Empire“) verwandeln oder aus seinen Stoffen – wie im Fall von „House of Cards“ – eines besten Seriendrama dieses Jahrzehnts entstehen lassen.
Während sich Roman Polanski in den 1970er Jahren an dem nihilistischen Königsdrama „Macbeth“ die Zähne ausgebissen hat, ist die US-Serie „House of Cards“ obwohl sie auf dem gleichnamigen Roman von Michael Dobbs und auf einer britischen Miniserie beruht, vor allem das: ein grandioses „Macbeth“-Update. Es fehlen zwar die schottischen Highlands und die kruden Weissagungen dreier Hexen. Doch es bleibt der Ehrgeiz, der über Leichen geht. „House of Cards“ verlegt Shakespeares Tragödie nach Washington, DC. Der Intrigant und Mörder Frank Underwood (Kevin Spacey), der es bis zum US-Präsidenten bringt, und seine Frau Claire (Robin Wright) sind unschwer als Macbeth und Lady Macbeth zu erkennen. Und das verstörend-intensiv inszeniertes Politdrama, das von David Fincher, der bei den ersten Folgen selbst Regie geführt hat, mitproduziert wird, beweist eindrücklich, dass Shakespeares Mord-, Verschwörungs- und Rachedramen nie aus der Mode kommen.
Anfangs ist Francis Underwood noch der Mann im Hintergrund, der die politische Maschinerie in Washington am Laufen hält. Derjenige, den man bei der Vereidigung des neuen US-Präsidenten irgendwo am Rand verstohlen lächeln sieht. Er ist als Kongressabgeordneter zwar wichtig genug, um einen Chauffeur zu haben. Seinen Namen müssen Nachwuchsjournalisten trotzdem erst noch googeln. Doch das soll sich bald ändern: Francis Underwood hat einen Plan. Und „House of Cards“ erzählt seine Geschichte. Der nach Macht gierende und immer wieder sich mit lakonischen Kommentaren der Kamera zuwendende Underwood, dessen Zynismus nur von der Kälte seiner Frau übertroffen wird, wird es schaffen, sich nach oben zu intrigieren, wird dabei aber nicht wirklich glücklich werden.
Und wahrscheinlich hätte diese Macbeth-Geschichte noch viele weitere, immer düstere Wendungen genommen, wenn Hauptdarsteller Kevin Spacey nicht im November 2017 von Netflix gefeuert worden wäre, nachdem ihm mehrfach sexuelle Belästigung vorgeworfen wurde.
Platz 5: True Detective (seit 2014)
Es ist eine dieser Endlosfahrten durch das Niemandsland von Louisiana. Rustin Cohle fasst zusammen, was er und sein Kollege Marty Hart über den Serienkiller wissen, nach dem sie suchen: „Er hat es auf Prostituierte abgesehen, tötet kunstvoll, und er ist irgendwie religiös.“ Hart antwortet resigniert: „Alle hier im Umkreis von 1000 Meilen sind irgendwie religiös – außer dir.“ Ein ganzes Stück Arbeit wartet also auf Cohle und Hart, deren Mörderjagd im Jahr 1995 beginnt und 17 Jahre später endet. Acht Stunden lässt sich „True Detective“ Zeit für die verwirrende Geschichte, die eigentlich in acht Kapiteln einen überlangen Film noir erzählt.
Die erste Staffel der HBO-Serie „True Detective“ entwirft einen verstörend-komplexen, atmosphärisch aufgeladenen Krimikosmos, in dessen Zentrum der nihilistische, von Visionen geplagte Rustin Cohle (Matthew McConaughey) und sein um Bodenständigkeit ringender Partner Marty Hart (Woody Harrelson) stehen. Nic Pizzolattos Neo-Noir-Thriller, um die zwei Detectives der Louisiana State Police führt exemplarisch vor, dass das Serien-TV heute all die Dinge beherrscht, die das Kino im Zeitalter der 3D-Spektakel verlernt hat: Sich auf eine Geschichte, auf deren Schauplätze, auf deren Haupt-, aber auch Nebenfiguren einzulassen. Und nebenbei arbeitet sich „True Detective“ an religiösen, philosophischen, an existenziellen Fragen menschlichen Zusammenlebens ab. Leichte Kost ist das nicht.
Doch vielleicht genau deshalb ist „True Detective“ die Serie, auf die sich alle einigen können. Zumindest auf die beklemmend inszenierte erste Staffel. Die zweite Staffel mit Colin Farrell und Rachel McAdams fiel durch, die dritte mit Mahershala Ali und Stephen Dorff schaffte es aber fast, an die Qualität der ersten anzuknüpfen.
Platz 4. The Marvelous Mrs. Maisel (seit 2017)
Amy Sherman-Palladino liebt toughe Frauen, die sich etwas trauen. Frauen, denen die Etikette schnuppe ist, die nicht auf den Mund gefallen sind. Frauen, die, wenn sie es für richtig halten, Hals über Kopf ihr bisheriges Leben hinter sich lassen, um etwas Neues auszuprobieren, sich in ein Abenteuer mit ungewissen Ausgang zu stürzen. So eine Frau war Lorelai Gilmore aus Sherman-Palladinos Serienhit „Gilmore Girls“, die als hochschwangere Sechzehnjährige von zu Hause abhaut, den Debütantinnenbällen und dem wohlsortierten Oberklasse-Ennui ihrer bornierten Eltern entflieht, um ihre Tochter allein groß zu ziehen. So eine war Michelle Simms aus der nicht ganz so erfolgreichen Serie „Bunheads“ – ein Las-Vegas-Showgirl, das aus einer Laune heraus einen Verehrer heiratet und zu ihm in ein verschlafenes Küstenkaff zieht. Und so eine ist die Titelheldin aus „The Marvelous Mrs. Maisel“, der bisher besten Serie Amy Sherman-Palladinos.
Am Ende der ersten Episode wird die wunderbare Miriam „Midge“ Maisel, ein jüdisches Mädchen von der Upper West Side, zwar ohne Ehemann dastehen (der ist mit der gar nicht so hübschen Sekretärin abgehauen). Sie wird wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses zwanzig Minuten im Knast verbracht haben (okay, sie hätte vielleicht doch nicht bei ihrem betrunkenen Auftritt im Gaslight Café stolz ihre Brüste zeigen sollen). Aber dafür hat sie einen Plan: Sie will Komikerin werden.
Diese Mrs. Maisel ist eine Seelenverwandte von Liz Lemon aus „30 Rock“, Nancy Botwin aus „Weeds“, der tollkühnen Komikerin Amy Schumer oder eben Lorelai Gilmore aus „Gilmore Girls“: eine selbstbewusste, unkaputtbare, unverkrampfte, zur Derbheit und zur Selbstentblößung neigende Frau („Hört bloß nicht auf mich: Ich bin verrückt!“), die sich viel zu lange mit der Rolle der treu sorgenden Hausfrau abgefunden hat, endlich ihr komisches Talent entdeckt, sich ein paar Tipps von Lenny Bruce holt und sich Ende der 1950er Jahre aufmacht, in den Kellerklubs von New York City als Stand-Up-Comedian Karriere zu machen.
Amy Sherman-Palladino macht die Comedyserie zu einer One-Woman-Show für Rachel Brosnahan, die man bisher vor allem als das Callgirl Rachel Posner aus „House of Cards“ kannte und deren komisches Talent eine Offenbarung ist.
Platz 3: Girls (2012–2017)
„Warum mühen sich alle in New York ab? Warum werden wir alle zu Sklaven einer Stadt, die uns eigentlich gar nicht haben will?“, fragt Hannah Horvath (Lena Dunham) in einem Moment der Klarheit. Sie ist gerade zu Hause in Michigan – bei ihren Eltern, die ihr am Anfang der Serie den Geldhahn abgedreht haben und die selbst besseren Sex zu haben scheinen, als ihre Tochter, die in New York City von einer Demütigung zur nächsten stolpert.
Dass „Girls“ ein Gegenentwurf zu „Sex & the City“ ist, ist ein Missverständnis, das Lena Dunham, Erfinderin, Autorin, Hauptdarstellerin und oft auch Regisseurin von „Girls“, natürlich selbst gestreut hat, nicht zuletzt durch das „Sex & the City“-Plakat, das wie eine Mahnung über Shoshannas Bett hängt. Auch in „Girls“ geht es um ein paar Freundinnen, die versuchen, in New York City ihr Leben zu meistern, die sich allerdings kein Apartment im West Village, sondern nur ein WG-Zimmer in Greenpoint leisten können.
Dunham erzählt mit einer Nüchternheit, Selbstverständlichkeit, Intimität, die viel der Do-it-Yourself-Ästhetik der Mumblecore-Filme verdankt, aber auch der unterschätzten Serie „Freaks & Geeks“ von Judd Apatow, der Koproduzent von „Girls“ ist. Und wie andere New-York-Serien wie „Friends“ und „2 Broke Girls“ porträtiert diese verdreht romantische Sex-Komödie mit ihren ziellos umherirrenden Protagonistinnen und ihrem Hipster-Soundtrack, der von Santigold bis zu den Fleet Foxes reicht, nicht nur New York City, sondern fängt auch prägnant den Zeitgeist ein. „Ich könnte die Stimme meiner Generation sein“, sagt Hannah einmal in der ersten Staffel, bekommt dann aber Skrupel: „Oder zumindest eine Stimme. Einer Generation.“
Platz 2. Stranger Things (seit 2016)
Ein übersehenes Meisterwerk aus den 1980ern ist die Highschool-Komödie „Fast Times at Ridgement High“, die auf Deutsch auf den Namen „Ich glaub’, ich steh’ im Wald“ hören muss. Amy Heckerling und Cameron Crowe erzählen darin bittersüße Geschichten von der ersten große Liebe, der ersten großen Ernüchterung, vom Erwachsenwerden in der Vorstadt, das sich hauptsächlich im örtlichen Einkaufszentrum abspielt. Davon handelt auch die dritte „Stranger Things“-Staffel. Nur dass in der Science-Fiction-Horror-Retro-Show der Duffer-Brüder das Erwachsenwerden durch monströse Heimsuchungen aus der Schattenwelt etwas erschwert wird.
Keine Sorge, hier wird nicht verraten, wie das Grauen im Sommer des Jahres 1985 die telekinetisch begabte Eleven (Millie Bobby Brown), die vier liebenswerten Nerds Will (Noah Schnapp), Mike (Finn Wolfhard), Dustin (Gaten Matarazzo) und Lucas (Caleb McLaughlin) und all die anderen Bewohner von Hawkins, Indiana, heimsucht. Nur so viel: „Stranger Things“ bleibt eine Serie von Nerds über Nerds für Nerds, ein grandioser Spaß für alle, die sich in der Welt zwischen „E. T.“ und „Es“, zwischen Spielberg und Cronenberg zu Hause fühlen, ein kurios-grandioser Mix aus Filmzitate-Sammlung, 80er-Jahre-Hommage und Gruselstunde. In den acht Episoden der dritten Staffel geht das vergnügte Wühlen im Archiv der Popkultur weiter. Diesmal kramen Matt und Ross Duffer etwa Foreigners „Cold as Ice“ und Madonnas „Material Girl“, „Das Ding aus einer anderen Welt“ und „Auf der Jagd nach dem grünen Diamanten“ hervor.
Oder eben „Fast Times at Ridgement High“: Wer bei der erotisch aufgeladenen Swimmingpool-Szene und den ständigen Anspielungen auf Phoebe Cates noch unschlüssig ist, erkennt spätestens dann, wenn Steve (Joe Keery) als Eisverkäufer in einem lächerlichen Matrosendress vergeblich versucht mit Kundinnen im neuen Einkaufszentrum von Hawkins zu flirten, dass man mitten hineingeraten ist in eine „Ridgement High“-Lobhudelei. Und von da an wartet man die ganze Zeit eigentlich nur noch darauf, dass endlich Jennifer Jason Leigh durchs Bild läuft und „Somebody’s Baby“ von Jackson Browne zu hören ist.
Nebenbei erweist sich diese virtuos und farbenprächtig inszenierte Geschichte mit ihren rasant-pfiffigen Dialogen und ihren plötzlichen Abzweigung ins Trashige und Düstere als der kleine lustige Bruder der deutschen Netflix-Serie „Dark“. Auch hier wird ein Kleinstadtkosmos seziert, der von einer mysteriösen Macht heimgesucht wird.
Platz 1. Game of Thrones 2011 –2019)
Schon vor der Ausstrahlung der Pilotepisode der sechsten „Game of Thrones“-Staffel, ist es dem Golden-Globe-dekorierten Ian McShane, der damals neu zur Serie stieß, gelungen, die Fans zu brüskieren: Nachdem er im Internet nicht nur verraten hatte, dass er einen Priester spielen, sondern auch eine totgeglaubte Figur zum Leben erwecken wird, spielte das Internet verrückt. Und dass er dann verkündete „Get a fucking life. It’s only tits and dragons“, machte die Sache nicht besser.
Natürlich geht es in „Game of Thrones“ nicht nur um Titten und Drachen. Die Fantasyserie, die George R. R. Martins magisch aufgeladenes mittelalterliches Westeros-Epos mit all seinen Machtkämpfen und Verschwörungen so spektakulär in Szene setzt, ist die Superlativshow dieses Jahrzehnts. Die meisten Emmys, die meisten digitalen Downloads, die gruseligsten Splatterszenen, die größte Zahl an Nackten, Leichen und Zuschauer in der Geschichte von HBO. Es ist eine finstere, grausige, kalte Welt, in der „Game of Thrones“ einen hilflos aussetzt. Es wird massakriert, gemeuchelt, intrigiert. Alle wollen auf den Eisernen Thron, überall lauern Dämonen, Despoten, Blut, Sex und Tränen. Erst muss man den Niedergang des Hauses Winterfell mitansehen, dann wie überall und in alle Richtungen Menschen durch eine Welt im Aufruhr irren. Und während Westeros in Krieg und Chaos versinkt, marschiert im Osten auf Essos Daenerys Targaryen mit ihren Drachen und einem immer größeren Heer voran und im Norden jenseits des Eiswalls kommen die gruseligen White Walker näher.
David Benioffs und D. B. Weiss’ Fantasyserie zwingt einen von Folge zu Folge tiefer hinein in den Fantasykosmos, der zwar auf den Büchern Martins beruht, sich aber immer weiter von der Vorlage entfernt. Um in der von Machthunger und Rachsucht besessenen Welt nicht ganz den Überblick zu verlieren, klammert man sich an die Charaktere, die man lieb gewonnen hat: An den lakonisch-wortgewaltigen Tyrion Lannister (Peter Dinklage) zum Beispiel oder an das rebellische Mädchen Arya Stark (Maisie Williams), zwei der wichtigen Figuren in diesem Spiel der Throne.