Manfred Onnen und die Mitglieder des Onnen-Chors proben Stücke aus vielen Ländern. Foto: Friedl

Die Chorszene in Stuttgart ist sehr vielseitig. In einer Serie stellen wir hier den Onnen-Chor mit Sitz in Heumaden vor.

Stuttgart - Arg viele weiße Flecken gibt es nicht mehr auf der Weltkarte des Onnen-Chors. Und die paar, die es noch gibt, sind vor allem deshalb noch nicht bespielte Territorien, weil sich deren Musik beim besten Willen nicht wirklich gut in den mehrstimmigen Gesang des Onnen-Chors fügen lässt. Am Fleiß und an der Neugier der knapp 40 Chormitglieder scheitert es jedenfalls nicht: Etwa 450 Lieder umfasst heute das Repertoire, meist gesungen in der Originalsprache. Wer im Onnen-Chor mitsingt, beherrscht also 60 verschiedene Sprachen. „Damit sind wir einzigartig“, erklärt der Chorleiter Manfred Onnen, „zumindest hat uns bei dieser Behauptung noch niemand widerlegt. Und im Internet erfährt man ja heute sehr viel. Viele sind mit internationalen Programmen unterwegs. Aber niemand bietet eine solche Themenvielfalt wie wir.“

Gründung als Folklore Singchor Stuttgart

Diese Vielsprachigkeit ist nicht nur eine intellektuelle Herausforderung, sie war schon immer der Kern des Onnen-Chors, der im Dezember 1959 als Folklore Singchor Stuttgart in einem Lokal nahe der König-Karls-Brücke in Bad Cannstatt ins Leben gerufen wurde. „Unser Anspruch ist, dass auch die jeweiligen Originalsprachler sofort die Lieder aus ihrer Heimat erkennen“, so Manfred Onnen, der seit dem unerwarteten Tod seines Vaters und Chorgründers Gerd im Mai 1977 den Klangkörper leitet. „Und die Chormitglieder müssen zugleich ja auch genau wissen,was sie da gerade singen. Das wäre schon sehr peinlich, wenn es vergnügte Gesichter gibt an Stellen, an denen es um Trauer oder Schmerz geht“, so Dieter Weichert, Geschäftsführer und Mitsänger.

Singen und Sprechen in fremden Sprachen

Und dann kommt noch der berühmte eigene Ton der Onnens hinzu: Denn natürlich ist so gut wie keines dieser Stücke aus dem Bereich internationale Folklore, Pop oder Gospel im Original für vierstimmigen Chor geschrieben worden, wie sie dann ja vom Onnen-Chor gesungen werden. Nahezu alle Arrangements dazu stammen deshalb von Vater oder Sohn Onnen. Beide sind Autodidakten, keine studierten Profis. Damit all diesen hohen Anforderungen entsprochen werden kann, gibt es eine choreigene phonetische Schrift, in der auch kleinste Nuancen berücksichtigt sind. „Ein Nasallaut klingt ja immer ganz verschieden im Englischen, im Französischen, Portugiesischen oder Spanischen“, weiß Onnen. Da wird es schon stimmen, wenn der Chorleiter behauptet: „80 bis 85 Prozent von uns beherrschen die jeweiligen Sprachen so gut, dass sie sich auch in diesen unterhalten können.“

Doch all das nützt wenig, wenn wichtige Informationen aus dem Entstehungsland fehlen. „Sehr lange war ich einmal an einem albanischen Hochzeitslied interessiert“, erinnert sich Onnen, „das mir sehr gut gefallen hat. Aber wir wussten lange nicht, wie das richtig gesungen wird. Erst ein Muttersprachler hat uns da die entscheidenden Hinweise gegeben“. Da ist es schon hilfreich, dass Stuttgart als Stammsitz des Chores auch eine Industriestadt von internationalem Ruf ist mit entsprechenden Universitätseinrichtungen, was viele Menschen aus der ganzen Welt ins Schwäbische lockt. Heute kommt hinzu, dass Fernreisen in vielerlei Hinsicht erschwinglicher und bequemer geworden sind als in den Gründungsjahren des Onnen-Chors. Viele reisen heute auch einfach mal in der Urlaubszeit in exotische Gefilde, als Mitglied des Onnen-Chors dann sicherlich mit einem besonderen Gespür für Musik und Sprache des jeweiligen Gastlands.

Fremde und vertraute Klangwelten

Onnen studiert dazu auch gerne in der Musikgeschichte. „Das gibt es ja immer wieder, dass Komponisten mit Musik aus einer für sie fernen Welt arbeiteten. Der italienische Opernkomponist Giacomo Puccini etwa hat in seiner „Madame Butterfly“ mit pentatonischen Skalen gearbeitet, die damals mit China und dem aisatischen Raum gleichgesetzt wurden.“ Onnen: „Das finde ich schon sehr interessant: Was hat diese Leute an den für sie fremden Klangwelten wirklich interessiert und wie haben sie dies in ihre vertraute Klangwelt eingearbeitet“.

In dieser fernöstlichen, asiatischen Klangwelt sieht er auch für die heutigen Hörer noch den größten Reiz des Exotischen. Onnen: „Die Pentatonik, also die Fünf-Ton-Musik, gilt heute als das älteste Tonsystem, das erschlossen werden konnte. Man hat es etwa von den Knochenflöten her erarbeitet. Ob indische, pakistanische oder indonesische Musik: Da gibt es viele Verwandtschaften, das klingt auch für unsere heutigen Ohren noch ziemlich fremd.“ Das führt ihn dann auch zu den weißen Flecken, die es ja immer noch gibt auf der Onnen-Landkarte: „Das ist vor allem Musik aus dem arabischen, insbesondere aus dem nordafrikanischen Raum, also Marokko oder Algerien“, so Onnen: „Der Gesang ist sehr solistisch ausgeprägt, der Ton ist extrem schlank und flexibel, differenziert in Viertel- und Achtel-Ton-Skalen, das kann man mit einem Chor nicht wirklich nachbilden.“

Weihnachtslieder mit Überraschungen

Fremd wird für manchen aber auch „O sanctissima“ sein, das zum festen Bestandteil des Weihnachtsprogramms vom Onnen-Chor gehört. Onnen: „Wir kennen das alle als „O du fröhliche“. Kaum jemand weiß aber, dass das Original aus dem italienisch-lateinischen Sprachraum kommt. Wir singen das wie im Original mit besonders viel Schmelz. Auch „Kommet ihr Hirten“ klingt ziemlich anders im tschechischen Original.“ Eines aber bleibt zum Trost: „Stille Nacht“. Onnen: „Das ist definitiv deutschen Ursprungs. Oder österreichisch, je nach Betrachtungsweise. Wir singen es jedenfalls absolut dialektfrei auf deutsch.“

Diese Neugier auf Neues ist die Messlatte, ist zugleich die Herausforderung für neue Mitglieder des Onnen-Chors: „Wir sind ein Eigenbetrieb, gehören zu keiner Partei, zu keiner Gemeinde“, so Weichert. „Wir machen Konzerte in den verschiedensten Besetzungen, spielen bei Bedarf auch mal mit Halb-Playback. Und wir haben viele gute Musiker um uns herum, alles Profis, die uns in den verschiedensten Formationen begleiten. Da dauert es schon etwas, bis jemand hineingewachsen ist in unseren Chor. Aber dann bleibt er auch“.