Für die Wernhalden-Kinder geht es bei Wind und Wetter in den Wald. Foto: Lichtgut/Zophia Ewska

Vor 50 Jahren gründeten zwei Erzieherinnen Kindergarten Wernhalde im Stuttgarter Süden. Hier funktioniert, was sonst oft scheitert: Kinder mit und ohne Behinderung spielen und lernen gemeinsam. Was macht den Kindergarten anders?

Martha ist flink und stark. Sie klettert auf Bäume, auf die sich sonst fast niemand traut. Im Wald ist sie am allerliebsten, erzählt die bald Sechsjährige. Angst habe sie vor nichts. Vor zwei Jahren, in ihrem damaligen Kindergarten, konnte sie das nicht sagen. Sie sprach nicht, konnte keinen Kontakt zu anderen Kindern aufnehmen und hat anderen beim Spielen nur zugeschaut. Dann kam sie in den integrativen Kindergarten Wernhalde in Stuttgart-Süd, fand Freunde und begann mithilfe einer Logopädin und der Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher zu sprechen.

 

Auch Oskar eckte in seiner alten Kita an. Er lief weg, spielte nicht mit und sei generell zu impulsiv. Jeden Morgen die gleiche Diskussion, ob er nicht zu Hause bleiben könne, erzählt seine Mutter Katja Mast. Auch die Erzieher kamen wegen Oskars Verhalten an ihre Grenzen. Heute läuft er Hand in Hand mit seinen Freunden durch den Wald und freut sich jeden Morgen, in die Wernhalde gehen zu dürfen. Hätte Oskar im vergangenen Sommer dort keinen Platz erhalten, hätte Katja Mast vermutlich ihre Arbeit aufgegeben und Oskar zu Hause betreut.

Inklusion seit Anfang an

Im Waldorfkindergarten Wernhalde haben sich schon unzählige Kinder ähnlich wie Martha und Oskar entwickelt. Jeden Morgen gehen 40 bis 50 Kinder durch die Tür des mit Holz verkleideten Hauses direkt am Rand des Bopserwaldes. In manchen Rucksäcken befinden sich mehr Handicaps als in anderen, doch für die Erzieherinnen und Erzieher wiegt jeder Rucksack gleich viel. 1973 gründeten zwei befreundete Heilpädagoginnen diese Einrichtung. Eine von ihnen war Véronique Knierim, die 39 Jahre lang die Wernhalde geleitet hat und noch heute im Obergeschoss des Hauses lebt. Damals betreute sie einen kleinen Jungen mit einer Sprachentwicklungsstörung, ihre Bekannte hatte den Wunsch, eine Tagesstätte für Kinder zu gründen. Sie taten sich zusammen. Von einer Reise aus der Provence wurden kleine Stühle mitgebracht, Laken wurden gefärbt, um daraus Tischdecken und Servietten zu nähen. Schon zu Beginn befinden sich zwei Einrichtungen unter einem Dach: eine für Regelkinder und eine für Kinder mit besonderem Förderbedarf. So entstand vor 50 Jahren einer der ersten Kindergarten in Baden-Württemberg, der Inklusion lebte.

Spielen, Spaß haben, das gehört zum Kita-Alltag dazu. Foto: Lichtgut

Beim gemeinsamen Frühstück – eines von vielen festen Ritualen in der Wernhalde – ist Romy still und konzentriert sich auf ihr Brot. Moritz spricht dafür umso mehr. Shira kann nur wenige Wörter sagen und braucht besonders viel Aufmerksamkeit, auch Luis fehlen manchmal die Worte. Hannes, der ein Regelkind ist und mit am Tisch sitzt, stört das nicht, erzählt sein Vater Joachim Till. Wer im Kindergarten ein Förderkind sei, wisse er nicht, „Kinder unterscheiden dahingehend nicht“, sagt Till. Zu Hause erzähle er manchmal von Kindergartenfreunden, denen er hilft, den Reißverschluss zuzumachen. Jeden Tag nach dem Frühstück gehen alle zusammen in den Wald. Luis und Moritz spielen Bauarbeiter und erklären Oskar, wie das funktioniert. Mit Stöcken graben sie eine Baumwurzel frei und erinnern Oskar, das man fleißig weitergraben muss. Denn er vergisst manchmal, wie Bauarbeiter-Spielen eigentlich geht. Shira nimmt vorsichtshalber stets die Hand von jemandem, damit sie nicht verloren geht. Weglaufen, sich dem Alltag verweigern; das tut hier niemand

„Weil man Kindern zeigt, dass sie okay sind, wie sie sind“

Warum funktioniert hier, was in anderen Kindergärten manchmal schwierig ist? „Weil man Kindern mit Fingerspitzengefühl zeigt, dass sie okay sind, wie sie sind“, sagt Julia Hofmann. Bei ihrer Tochter Ella vermuten Ärzte eine Autismus-Spektrum-Störung. Als sie Ella vor fünf Jahren bei der Einrichtungsleiterin Anna-Katharina Jedam vorstellte, fragte diese nicht nach Ellas Verdachtsdiagnose. „Jedam interessierte, woran es Ella gerade fehlte und was sie brauchte, um glücklicher zu sein“, erinnert sich Hofmann.

Anna-Katharina Jedam leitet die Wernhalde seit elf Jahren. Für sie ist das Glas immer halb voll. In einem Halbsatz erwähnt sie die Schwächen, dann folgt eine lange Liste an Dingen, die ein Kind gut kann. „Jedes Kind kann so viel. Empathisch sein, balancieren, Obst für sich und seine Freunde schneiden, einen Faden in eine Nadel stecken – man muss es ihnen nur zeigen“, erzählt Jedam.

Auf ihrem Schreibtisch landen jedes Jahr viele Bewerbungen, sowohl für Regelkinder als auch für Kinder mit Förderbedarf. Aufnehmen kann Jedam nur etwa ein Viertel. In die Spur passen, so sein, wie ein normales Kind angeblich zu sein hätte, das zählt für die Sozialpädagogin nicht. „Ich binde einen bunten Blumenstrauß, und dann schauen wir, wo die Reise hingeht“, lacht die 41-Jährige. Beide Kindergartengruppen bestehen meist zu gleichen Teilen aus Regel- und Förderkindern.

Der Platz für eine zweite Einrichtung fehlt

Mehr Erzieher als übliche Kinderstätten hat die Wernhalde nicht. Dafür aber eine Physiotherapeutin und eine Logopädin. Durch eine Kooperation mit einer Praxis in Stuttgart verbringen die Fachkräfte vier Tagen in der Woche mehrere Stunden in der Einrichtung und arbeiten mit den Kindern an motorischen und sprachlichen Defiziten. Abgerechnet werden die Behandlungen über die Krankenkasse. Zwei Sonderpädagoginnen bereiten die älteren Kinder auf die Schulzeit vor und widmen sich der Einzelförderung der Kinder. Auch die Erzieher selbst bilden sich regelmäßig zu den verschiedenen Förderschwerpunkten fort, erzählt Anna-Katharina Jedam. Sie selbst hat zuletzt etwa an einer Schulung zur Kommunikation mit Kindern, die mit einer Autismus-Spektrum-Störung leben, teilgenommen.

Mehr bezahlen als in anderen städtischen Kindergärten müssen die Eltern von Regelkindern nicht. Der Monatsbeitrag für ein Förderkind richtet sich nach dem Gehalt der Eltern und wird oft von Jugend- oder Sozialamt mitfinanziert. Dank Fachkräften und Fortbildungen kann die Wernhalde auch immer wieder Kinder mit besonderen Diagnosen wie dem Downsyndrom, dem Williams-Beuren- oder Rett-Syndrom aufnehmen. Gerne würde Jedam eine zweite Einrichtung eröffnen, doch dafür fehlen Personal und Räumlichkeiten.

Struktur – aber keine Langeweile

Die feste Struktur, die in der Wernhalde gelebt wird, ist laut vieler Eltern einer der Gründe, warum ihre Kinder zufriedener und geerdeter sind. Jeder Tag läuft ähnlich ab. Jeder Wochentag hat sein festes Gericht: Montags gibt es Reis, mittwochs ein Kartoffelgericht. Freitags ein besonderes Frühstück. Jeder Monat hat sein festes Lied, jede Jahreszeit ein bestimmtes Ritual. Und die Räume sind schlicht und reizarm gestaltet. Die feste Struktur hat Ordnung in Oskars Kopf geschaffen. „Oskar ist immer noch Oskar, ein Kind voller Bewegungsdrang. Aber die innere Unruhe hat sich gelegt“, erzählt seine Mutter Katja Mast. Kindergeburtstag feiern wollte er bisher nie. In diesem Jahr durfte Mast endlich Einladungskarten für ihren Sohn schreiben, denn hier hat er Freunde gefunden, mit denen er gerne spielt – und die ihn so nehmen, wie er ist.

Mit gestärktem Selbstbewusstsein verlassen die Kinder später die Wernhalde. Viele können auf eine normale Grundschule gehen, manche brauchen eine Inklusionsbetreuung, nur wenige müssen auf eine Förderschule. Für Ella war die erste Zeit in der Grundschule alles andere als leicht, erinnert sich Julia Hofmann. Die Strukturen der Wernhalde fielen weg, Ella ging in der Klasse unter. „Lehrkräfte sahen in meiner Tochter wieder nur die Herausforderung.“ Heute hat Ella eine Inklusionskraft und besucht eine neue Grundschule. Im Unterricht kommt sie mit wie die meisten anderen Kinder.