Die Felsmassen sind kurz vor dem Dorf Brienz zum Stillstand gekommen Foto: AFP/Arnd Wiegmann

In der Nacht zum Freitag haben sich riesige Geröllmassen in Richtung des Schweizer Bergdorfs gewälzt. Die Gefahr ist noch nicht vorüber.

Nachdem die gut 80 Bewohner ihr Zuhause in dem auf etwa 1100 Metern zwischen Lenzerheide und Davos gelegenen Dorf im Albulatal bereits vor gut einem Monat aus Sicherheitsgründen verlassen mussten, war es jetzt so weit: Der lange erwartete Bergrutsch ist eingetroffen. Schon im Verlauf des Donnerstags hat die Geschwindigkeit der Gesteinsbewegungen massiv zugenommen, sich mehr als verzehnfacht. Die Felsmassen rutschten mit einer Geschwindigkeit von 40 Metern pro Tag. Am Abend ging alles Schlag auf Schlag: Zwischen 23 Uhr und Mitternacht war am Berg ein massives Krachen zu hören. Sofort rief die Gemeinde die höchste Alarmstufe aus. Riesige Felsmassen rutschten Richtung Brienz und verfehlten das Dorf nur knapp. Bei Tagesanbruch war der Berg kaum wiederzuerkennen.

Von der Wiese unterhalb des Bergs ist nichts mehr zu sehen, Bäume wurden wie Streichhölzer umgeknickt und mitgerissen, auch eine Holzhütte unweit des Dorfeingangs wurde unter dem gigantischen grauen Schuttberg begraben. Nur wenige Meter vor dem alten Schulhaus machte der Schuttstrom halt. Die Straße nach Lenzerheide ist jedoch komplett verschüttet. Bis zu zwölf Meter hoch türmt sich das Geröll auf.

Der Krisenstab der Gemeinde tagte zweimal in der Nacht und wertete im Morgengrauen erste Fotos aus. Laut ersten Erkenntnissen der Geologen gab es keinen Felssturz, sondern einen Schuttstrom. Stefan Schneider, der Leiter des Frühwarndienstes, schätzt, dass sich in der Nacht rund 1,2 bis 1,5 Millionen Kubikmeter Felsmaterial ins Tal bewegt haben – ein Volumen von rund 1500 Einfamilienhäusern. Das entspräche etwa zwei Drittel des kritischen Felsbereichs Insel. „Das ist eine gute Nachricht“, sagt Geologe Schneider, „weil die Gefahr für das Dorf jetzt deutlich geringer ist.“ Den gesamten Vormittag über erkundeten Geologen den Berg bei Helikopter-Überflügen aus der Luft. Die zentrale Frage für den Moment sei, ob die umliegenden Gebiete im absturzgefährdeten Hang stabil sind oder nicht. Ein Dutzend Experten arbeitet nun mit Hochdruck daran, Messresultate zu sammeln und Bildmaterial zu sichten.

„Heute ist einer der besten Tage seit der Evakuierung.“

Die evakuierten Bewohner reagierten erleichtert, dass das Gestein jetzt endlich abgestürzt ist, ohne das Dorf zu beschädigen. „Heute ist einer der besten Tage seit der Evakuierung“, sagt Gemeindepräsident Daniel Albertin, „die Zeit des Wartens war lang, und jetzt ist der Berg so gekommen, wie wir es gehofft haben. Es ist viel gekommen, aber es ist nichts beschädigt im Dorf, und es sind keine Einwohner zu Schaden gekommen.“

Noch dürfen die Einwohner von Brienz nicht zurück in ihr Bergdorf. Geologe Stefan Schneider sagt, am besten müsse man nun das Plateau oberhalb der Insel beobachten. Da sei es unklar, wie stabil die Lage da sei. Es werde einige Tage dauern, bis man genau beurteilen könne, wie sich die Gefahrenlage entwickeln könnte. Erst dann sei eine Aussage über den möglichen Zeitpunkt einer Rückkehr der Bewohner von Brienz möglich.