Der Mediziner Klaus-Michael Debatin erklärt im Interview, wieso von Lehrern eher Infektionsgefahren ausgehen als von Schülern – und warum Lehrerkräfte Familienfeiern derzeit meiden sollten.
Stuttgart - Professor Klaus-Michael Debatin ist ärztlicher Direktor der Kinderklinik in Ulm und ein Autor der baden-württembergischen Kinderstudie über Corona. Im Interview blickt er auf das kommende Schuljahr.
Herr Professor Debatin, bald beginnt auch in Bayern und Baden-Württemberg der „Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen“ an den Schulen. Wie sehen Sie die Infektionsrisiken?
Es ist klar, dass die Pandemie weiterläuft und wir die Schulen nicht komplett infektionsfrei halten können. Das gilt ja auch für den ganzen öffentlichen Raum. Aber Kinder haben ein Recht auf Bildung, und die Gesellschaft hat eine Verpflichtung zur Bildung und Ausbildung ihrer Kinder.
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Sie haben die Kinderstudie mit Kollegen von drei anderen baden-württembergischen Universitäten gemacht und das Infektionsrisiko von kleineren Kindern untersucht. Gibt es mittlerweile neue Erkenntnisse?
Alle nationalen und internationalen Daten belegen, was unsere Studie damals für die unter Zehnjährigen ermittelt hat: Kinder mindestens bis zum Alter von 14 Jahren übertragen das Virus seltener als Erwachsene. Kinder sind seltener und weniger schwer krank. Wenn wir uns die großen Ausbrüche der vergangenen Wochen anschauen, dann erweisen große Familienfeiern sich als Superspreads. Aktuell verbreiten die 20- bis 50-Jährigen das Virus am meisten.
Was wissen Sie über 15- bis 20-jährige Schüler?
Das Ansteckungsrisiko würde ich nicht höher, aber auch nicht viel niedriger als bei Erwachsenen einstufen.
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Viele Lehrer sind besorgt, weil sie sich im Klassenzimmer und umgeben von Schülern ohne Abstand und Maske in einer erhöhten Infektionsgefahr sehen.
Dass Lehrer von Kindern infiziert werden, gibt es zwar auch, es ist aber die Ausnahme. Studien über große Ausbrüche in den Hochinfektionsländern – zum Beispiel Israel – zeigen sehr deutlich, dass Lehrer die Infektionen eher in die Schulen tragen als umgekehrt. Dennoch würde ich für Lehrer ganz klare Empfehlungen formulieren: In ihrem persönlichen Umgang sollten sie sich sehr gewissenhaft an die Hygieneregeln halten. Lehrer sollten im Moment nicht an großen Familienfeiern teilnehmen und im Privaten darauf achten, die Alltagsmaske konsequent zu tragen und beim Händewaschen penibel zu sein. Das schafft dann auch Schutz für die schulische Umgebung. Bei der Kommunikation zwischen Lehrkräften in der Schule ist es außerdem wichtig, dass der Abstand eingehalten wird.
Die Landesregierung hat festgelegt, dass für Lehrer untereinander das Abstandsgebot an der Schule gilt. Für Schüler gilt es im Unterricht nicht, sie müssen dort auch keine Maske tragen. Geht das in die richtige Richtung?
Bei der niedrigen Infektionsaktivität, die wir aktuell haben, ist das angemessen. Aber in dem Moment, in dem die Inzidenz – damit wird die Zahl der Coronafälle je hunderttausend Einwohner pro Woche bezeichnet – regional steigt, muss man vorsichtig sein. Es ist international – in Schweden, Israel und den USA – gut dokumentiert: Wenn die Zahl der Coronainfektionen allgemein stark steigt, gibt es auch Ausbrüche an Schulen.
War die Schulschließung im Rückblick richtig?
Ja, das war richtig, weil niemand wusste, wie das Virus sich entwickelt. Aber jetzt haben wir eine andere Situation: Die Wiedereröffnung von Kitas und Schulen nach dem Lockdown hat in keinem Bundesland einen signifikanten Anstieg der Infektionszahlen von Kindern und Jugendlichen ausgelöst.
Sie blicken optimistisch auf das nächste Schuljahr?
Ja, ich bin zuversichtlich für die Schulen. Voraussetzung ist, dass es uns gelingt, außerhalb der Schulen die Infektionsinzidenz gering zu halten.
In Baden-Württemberg ist diese Kennzahl zuletzt auf 13,3 beziffert worden.
Trotz leichter Tendenz nach oben ist das ein niedriger Wert. Aber wir gehen langsam auf den Winter zu, und dann wird die Aktivität steigen – hinzu kommen Schnupfen, Husten und Grippe. Klar ist, dass ein krankes Kind zuhause bleiben muss, egal ob es Corona oder etwas anderes hat. Ein Kind mit Fieber, reduziertem Allgemeinzustand, Durchfall, starken Bauchschmerzen, Erbrechen und anhaltendem Husten über zwei Tage gehört nicht in die Schule.
In Bayern gilt für die ersten neun Tage nach den Ferien die Maskenpflicht auch im Unterricht. Ist das sinnvoll?
Bayern hat die höchsten Infektionszahlen in ganz Deutschland, in Baden-Württemberg sind sie deutlich niedriger. In München gibt es mehr Coronafälle als in Berlin und Hamburg. Außerdem hat sich gezeigt, dass die meisten Infektionsausbrüche – auch bei uns in Baden-Württemberg – in Zusammenhang mit Reiserückkehrern standen. Erst war es Ischgl, später Kroatien oder Spanien. Viele Bürger mit Familie in südosteuropäischen Ländern haben zudem den Sommer für Besuche genutzt. Es ist vernünftig, für die Dauer der Inkubationszeit eine Maskenpflicht im Unterricht zu verhängen. Man sieht in dieser Zeit, wie das Infektionsgeschehen sich entwickelt.
Aktuell haben wir zum Glück niedrige Ansteckungsgefahren. Können Sie Hausnummern nennen, wann die Risiken umschlagen?
Bis 25 Infektionen je 100 000 Einwohnern pro Woche sprechen wir von niedriger Inzidenz. Alle Werte bis 50 stufen wir als mittlere, höhere Zahlen als hohe Inzidenz ein. Bei einer Inzidenz über 50 würden ich eine Maskenpflicht an Schulen richtig finden. Dann müsste man sogar versuchen, das bei Grundschülern durchzusetzen. Aber in der Abwägung wäre dieser Schritt dann besser, als eine Schule oder Kita komplett zu schließen. An der Universität gibt es dieses Thema übrigens auch und in verschärfter Form: Dort haben wir es mit der Altersgruppe zu tun, die aktuell als Superspreader auftritt: Die Zwanzig- bis Dreißigjährigen gehen auf Parties und fahren in Risikogebiete. Seminare in einem kleinen Raum mit zwanzig Teilnehmern – das können wir zur zeit im Studium nicht mehr machen. Da kommt mit dem Semesterbeginn auch eine schwere Aufgabe auf die Hochschulen zu.