Mit Schubert-Liedern über unsere Zeit nachdenken: In drei Neuaufnahmen beweist die „Winterreise“ große Sprengkraft. Sogar Charly Hübner und Nick Cave passen dazu.
Stuttgart - Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus. Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum. Nun merk’ ich erst, wie müd’ ich bin. Wann halt’ ich das Liebchen im Arm? Wilhelm Müllers Texte, die Schubert in seiner „Winterreise“ vertonte, sind fester Teil unseres kulturellen Gedächtnisse s. Man hat sie im Kopf, und im Kopf hat man auch die existenzielle Verlorenheit, die Hans Zender 1993 seiner „komponierten Interpretation“ von Schuberts Liederzyklus einschrieb: 19. Jahrhundert, gesehen mit der Brille des späten 20. – plötzlich, zum ersten Mal, hatten die schönen Melodien tiefe Wunden, und plötzlich schien im Altbekannten die Möglichkeit eines radikal Neuen auf.
Winterreise interkulturell
Seither ist den 24 Liedern viel widerfahren, auffällig viel in den letzten Monaten. Der Bratscher Andreas Höricht hat den Anfang gemacht, für sein Voyager Quartet eine rein instrumentale Fassung geschaffen und die 12 ausgewählten Stücke außerdem durch Intermezzi miteinander verbunden (Solo Musica/Sony): eine interessante Verfremdung. Deutlich radikaler deutet das Asambura-Ensemble seine Version des Zyklus, indem es die Geschichte vom unbehausten Wanderer als Reflex auf die Flüchtlingsbewegungen unserer Tage deutet („Winterreise interkulturell“, Decurio/Klassik Center).
Musikalisch begegnen sich die schönsten Melodien aus der „Winterreise“, persischer Gesang, Klarinetten-Klezmer und ein Hauch von Neuer Musik. Das romantische Kunstlied zieren Oud, Santur und Tar, Melancholisches mündet in Tanz („Erstarrung“). Im „Leiermann“ finden Maximilian Guths Bearbeitungen der ausgewählten Lieder zu einer beeindruckenden Synthese: Hier greifen Melodien des Orients und des Okzidents ineinander, die Flöte intoniert nochmals das „Fremd bin ich eingezogen“, das präparierte Klavier markiert klopfend das unerbittliche Vergehen der Zeit, und mit seinen wiederholten Klanggirlanden gibt der persische Sänger eine neue Art von Leiermann. Schubert hält das aus. Nein, mehr noch, seine Lieder sprengen ihre romantische Hülle.
Winterreise mit Nick Cave
Die allerneueste Aufnahme des Zyklus durch das Ensemble Resonanz und den Schauspieler Charly Hübner (Resonanzraum Records/Harmonia mundi) treibt dies auf die Spitze, denn hier werden 14 Lieder der „Winterreise“ mit Songs von Nick Cave zusammengebracht.
Dessen „The Mercy Seat“ ist die Einleitung zu einer Geschichte, welche die Perspektive umkehrt: Der einsame, von seiner Geliebten verlassene Fremde, der sich in Wilhelm Müllers Gedichten und in Schuberts Musik langsam aus der Welt entfernt, ist hier nicht Opfer, sondern Täter, der aus Rache und Eifersucht sein Liebchen umbrachte. Schlagzeug-Beats und Klänge der E-Gitarre durchdringen die Arrangements, mit denen Tobias Schwencke 14 Schubert-Liedern zeitgenössische Würze verleiht. Charly Hübners Darstellung bleibt in der Schwebe zwischen Innigkeit, Zärtlichkeit, Distanz und Parodie.
Sein Gesang, völlig kunstlos, ist irgendetwas zwischen Tonhöhen-Behauptung und Rezitation. Zwischendurch liest der Schauspieler Texte aus Boris Sawinkows „Das fahle Pferd“, ein Gesangsverein singt eine friesische (?) Variante des „Lindenbaums“, und die Musiker streuen Mahlers Adagietto (aus der Fünften) ein – einschließlich erfolgreich integrierter E-Gitarre.
Charly Hübner gibt den Fremden mit Innigkeit und Distanz
Spätestens mit dem Lied „Erstarrung“ kommen die Musik und der Erzähler aus dem Tritt; das „Auf dem Flusse“ und Nick Caves „Sweetheart come“ liegen dem Irrsinn näher als der Wirklichkeit. Der Leiermann tönt nach einer wirkungsvollen Aufwärts-Gleitbewegung der Streicher am Ende schließlich nur noch sprachlos von ferne an: eine Stimme, übertönt von vielen. Man ist erschüttert, hingerissen.