Zu viele Konflikte, zu viel Stress: Auch nach vielen gemeinsamen Jahren entscheiden sich Paare, getrennte Wege zu gehen. Foto: imago/Westend61

In Baden-Württemberg werden fast 40 Prozent der Ehen geschieden – allerdings geht der Trend zur späten Trennung. Führt die Pandemie zu noch mehr Scheidungen? Oder bleiben die Paare in der Krise eher zusammen?

Stuttgart. - Drei Jahre lang hat Anja Kuhn im Keller gelebt. Im Keller ihres eigenen Hauses in der Region Stuttgart. Oben ging das Familienleben mit den drei Kindern weiter. Unten in der Einliegerwohnung hatte sie nach der Trennung von ihrem Mann Zuflucht gefunden. Kaum war dieser bei der Arbeit, nahm sie seinen Platz oben ein. „Ich hatte Angst, bei einem Auszug die Kinder zu verlieren“, erklärt Kuhn, die in Wirklichkeit anders heißt, dieses Arrangement. Das gut funktionierte – bis Corona kam.

 

Lockdown. Homeoffice. Homeschooling. Jede Menge Streit. Und trotzdem harrte Anja Kuhn aus. Es war schwer, in diesen Monaten eine neue Wohnung zu finden. Anwälte arbeiteten oft nur telefonisch. Hinzu kamen Kurzarbeit und finanzielle Sorgen. „Und viele reichen auch erst die Scheidung ein, wenn sie einen neuen Partner haben. Aber den konnte man im letzten Jahr ja auch nicht so einfach finden“, sagt Vivien Dolde-Gass, Fachanwältin für Familienrecht aus Filderstadt.

Scheidungszahlen sind noch nicht gestiegen

Das alles erklärt, warum die Scheidungszahlen durch die Corona-Pandemie bislang noch nicht gestiegen sind. Im vergangenen Jahr wurden in Baden-Württemberg 18 081 Ehen geschieden. Damit ist die Zahl der Ehescheidungen nach Angaben des Statistischen Landesamtes gegenüber dem Jahr 2019 um knapp fünf Prozent zurückgegangen.

„Wir hätten schon erwartet, dass die Zahl der Scheidungsverfahren nun zunimmt. Denn wer sich während des ersten Lockdowns getrennt hat, der hat jetzt das vorgeschriebene Trennungsjahr hinter sich“, sagt Viola Drobik, die am Stuttgarter Amtsgericht für Familiensachen zuständig ist. Zwischen Januar und Ende Juni 2021 gab es dort 286 Scheidungsverfahren. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 291 Verfahren und damit minimal mehr.

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Aber die Scheidungswelle wird kommen, da sind sich alle Experten einig. Nur eben zeitversetzt, in ein, zwei, drei Jahren. „Durch die viele gemeinsame Zeit zu Hause waren die Paare gezwungen, wieder mehr miteinander zu kommunizieren. Man konnte sich nicht durch Alltag und Freizeit von Problemen ablenken. So etwas wirkt bei fragilen Beziehungen natürlich als Beschleuniger“, sagt Scheidungsanwältin Vivien Dolde-Gass aus Filderstadt. Einen ähnlichen Effekt beobachten Experten seit Jahren nach den Weihnachtstagen oder nach gemeinsamen Urlauben.

Wird die Ehedauer künstlich verlängert?

Vermutlich wird die Pandemie also zur Folge haben, dass die Ehedauer künstlich verlängert wird – weil Trennungen aufgeschoben werden. Im Jahr 2020 war eine Scheidung in Baden-Württemberg dem Statistischen Landesamt zufolge im 6. Ehejahr am häufigsten (870 Scheidungen), gefolgt vom „verflixten“ 7. Ehejahr (869 Scheidungen). Die durchschnittliche Ehedauer aller im Jahr 2020 geschiedenen Ehen lag ähnlich wie in den Vorjahren bei knapp 16 Jahren.

Damit werden Ehen inzwischen zwar sehr viel häufiger geschieden als früher, wie auch die bundesweiten Zahlen zeigen – im Vergleich zu 1980 lag deren Zahl im Jahr 2020 um rund 40 Prozent höher. Sie dauern aber auch sehr viel länger. 1991 wurden Ehen noch nach nur 11 Jahren und 9 Monaten geschieden, so das Statistische Bundesamt.

Häufig reichen Frauen die Scheidung ein

Was ist der Grund für diesen Trend zur späten Scheidung? Soziologen machen dafür vor allem die Frauen verantwortlich. Mit gut 60 Prozent ist es inzwischen überdurchschnittlich häufig das weibliche Geschlecht, welches die Scheidung einreicht. „Viele Männer sind meta-emotional so inkompetent, dass sie lange gar nicht merken, dass es in der Beziehung kriselt. Frauen dagegen handeln einfach“, sagt Wassilios Fthenakis, Sozialanthropologe und emeritierter Professor an der Freien Universität Bozen. Möglich macht das auch die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen. Haben sie ein sicheres Einkommen und die Aussicht auf eine gute Rente, brauchen sie den Ehepartner ökonomisch gesehen nicht mehr.

„Gibt es Kinder in der Beziehung, halten Frauen aber meist durch, bis diese aus dem Gröbsten raus sind“, sagt Helena Klaar, eine der bekanntesten Scheidungsanwältinnen Österreichs. Weshalb die Ehedauer bis zur Scheidung steigt: Denn heute wird in den allermeisten Fällen nicht mehr geheiratet, weil ein Kind unterwegs ist. Sondern die Kinder kommen erst nach der Hochzeit – und da auch immer später.

Konflikte statt Kommunikation

Dass die Familiengründung einen entscheidenden Einfluss auf die Scheidungshäufigkeit hat, bestätigt der Sozialanthropologe Wassilios Fthenakis. Zusammen mit Kollegen hat er über zehn Jahre lang viele Familien vom Beginn der Ehe bis zum Ende der Grundschulzeit ihrer Kinder mit einer Längsschnittstudie begleitet. Das Ergebnis: Während dieser Zeit gingen alle wichtigen Indikatoren für eine Partnerschaft wie Kommunikation, Zärtlichkeit und Sex massiv nach unten. „Gestiegen dagegen ist bei mehr als 80 Prozent der Paare die Zahl der Konflikte“, sagt Wassilios Fthenakis. Die Hälfte diese Paare wiederum ließ sich dann scheiden.

Für Fthenakis sind diese hohen Scheidungszahlen ziemlich unverständlich. Zumindest dann, wenn das Glück bald darauf bei einem neuen Partner gesucht wird. „Wir wissen doch inzwischen, dass die Trennungswahrscheinlichkeit in der nächsten Beziehung um 20 Prozent höher liegt als in der vorherigen. Deshalb würde ich lieber in die bestehende Ehe investieren“, sagt Wassilios Fthenakis. Am besten mit therapeutischer Hilfe, so der Sozialanthropologe. „So könnte auch die Corona-bedingte Scheidungswelle noch vermieden werden.“

Anja Kuhn, die Frau, die in den Keller ihres eigenen Hauses zog, hat nach dem Lockdown vergangenen Sommer den Antrag auf Scheidung gestellt, der Termin stand bevor. „Und dann hat das Paar doch noch eine Mediation gemacht“, sagt die Scheidungsanwältin Vivien Dolde-Gass. Das Ergebnis: Statt einer Scheidung zieht nun der Mann aus, die Frau bleibt mit den drei Kindern im Haus. „Ohne Corona würde sie heute noch im Keller wohnen“, sagt Vivien Dolde-Gass.