Markus Hinterhäuser Foto: Neumayr

An diesem Dienstag enden die Salzburger Festspiele mit einer letzten Vorstellung von Aribert Reimanns Oper „Lear“. Es war die erste Saison unter der Leitung des Pianisten und Kulturmanagers Markus Hinterhäuser. Ein Blick zurück und nach vorne.

Salzburg - Wie viel Tradition darf, wie viel Neues muss sein? Ein Gespräch mit dem neuen Salzburger Intendanten Markus Hinterhäuser.

Herr Hinterhäuser, in einem Interview vor Beginn der Festspiele wurden Sie gefragt, wie Sie mit den hohen Erwartungen umgehen, die man nach einigen etwas unruhigen Jahren in Salzburg in Ihre Intendanz setzt. Sie haben geantwortet, Erwartungen würden Sie vor allem dann unter Druck setzen, wenn sie „in umgekehrtem Verhältnis zu den Möglichkeiten“ stünden. Was wollten Sie damit konkret sagen? Was dürfen und können Sie in Salzburg tun, und wo sind hier Ihre Grenzen?
Salzburg ist immer noch ein sehr großzügig ausgestattetes Festival, und ich habe viel Freiheit bei der Gestaltung. Dennoch unterscheide ich nach Robert Musil ganz pragmatisch zwischen dem Möglichkeits- und dem Wirklichkeitssinn. Es gibt feste Parameter bei den Salzburger Festspielen, die ich nicht in Frage stellen kann und werde, und diese Parameter haben auch damit zu tun, dass wir hier in ziemlich beispielloser Weise von unseren Einnahmen abhängig sind. Wir wollen und müssen in fünf Wochen 225.000 Karten verkaufen. Aber das stürzt mich nicht in eine Identitätskrise.
Also, anders formuliert: Sie müssen leicht Verdauliches und schwere Kost ausbalancieren.
Ja. So ein Festspielprogramm mit sechs Opern-, fünf Schauspielproduktionen und etwa 85 Konzerten zusammenzustellen: Das hat mit Statik zu tun. Ich habe hier die große Freiheit, auch Dinge auf den Spielplan zu setzen, die nicht von vornherein Publikumsrenner sind. Aber irgendwie muss ich die finanzieren. Und so setze ich eben auch Veranstaltungen an, die Erwartbares bieten – wobei dieses Erwartbare durchaus auch etwas Kluges und Widerständiges, einen Stachel haben kann und sollte. Diese Statik herzustellen ist für mich eine riesige Herausforderung, der ich mich stellen will.
Was für 2017 bedeutete: Hier drei neuere Stücke, dort „Aida“ mit Anna Netrebko?
Dieses Jahr hatten wir mit Alban Bergs „Wozzeck“, mit Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth“ und mit Aribert Reimanns „Lear“ drei gewichtige Opern des ausgehenden 20. Jahrhunderts auf dem Spielplan, die allesamt nicht unbedingt zum Begriff der Sommerfrische passen. Im Vorfeld waren viele skeptisch, ob das funktioniert. Tatsache ist aber, dass zwei dieser Opern vollständig und eine nahezu ausverkauft waren. Das ermutigt mich immens, weil es zeigt, dass man nicht nur auf vermeintlich leicht Konsumierbares setzen muss. Und die aufrichtige Herausforderung ist der größte Respekt, den man einem Publikum entgegenbringen kann. Die Besucher der Salzburger Festspiele sind für mich keinesfalls nur wandelnden Kreditkarten.
Das heißt, Sie sehen sich als Festspielleiter in einer gesellschaftlichen Verantwortung?
Auf jeden Fall.
Wer ist denn aber Ihr Publikum?
Allein die schiere Masse des Publikums verbietet es mir, dieses zu klassifizieren und zu beurteilen. Ich bin der Intendant der Festspiele, nicht der Türsteher. Wenn wir unser Programm im November in die Welt hinausschicken, dann weiß ich nicht, wie es ankommt. Die Salzburger Festspiele sind keine feste Institution wie das Opernhaus einer Stadt oder wie die Wiener Festwochen, die ich ja auch drei Jahre lang geleitet habe. Ich weiß nicht, wer kommen wird. Natürlich kenne ich ein paar Leute, die immer wiederkommen, aber das ist überschaubar. Was ich weiß, ist, dass Menschen, die ihre Zeit opfern, um hierher zu kommen und sich der Kunst zu stellen, grundsätzlich zu schätzen sind.
Und wie weit reicht das Spektrum der Salzburger Besucher hinab in die soziale Mittel- und Unterschicht?
Der Besuch der Festspiele setzt eine gewisse finanzielle Bereitschaft und Fähigkeit voraus, das ist unbestritten. Aber man muss auch hier genauer hinschauen: Fünfzig Prozent unserer Karten kosten weniger als 100 Euro, entgegen allen Klischees kann man in jede Veranstaltung für fünfzehn bis dreißig Euro hineingehen. Natürlich haben wir Kartenpreise deutlich darüber – und die könnten noch höher sein, das spielt für Menschen, die bereit sind, hohe Summen zu investieren, überhaupt keine Rolle. Schwierig ist die mittlere Preisklasse von 150 bis 260 Euro. Wir arbeiten ständig an der Modifizierung dieses Systems, aber viel Spielraum haben wir da nicht.
Sie haben das Festspielhaus mal als „Kulturkreml“ bezeichnet. Warum?
Weil ich das während meines Studiums in Salzburg so empfunden habe. Da war das Festspielhaus eine schier uneinnehmbare Festung, um die wir als Studenten herumschlichen. Erst mit Gérard Mortier wurde das Haus zugänglicher und offener, und das ist richtig so, denn es ist doch kein exterritoriales Gebiet, sondern gehört zu den Menschen dazu.
Wie würden Sie sich wünschen, dass man es nennt?
Einfach: Festspielhaus. Das ist schon gut.
Sie haben Ihrem ersten Festspieljahrgang eine Art Motto vorangestellt: „Mechanismen der Macht“. Warum?
Ich hab das nie als offizielles Motto ausgegeben, aber tatsächlich markiert es einen roten Faden. Ich musste eine Art Anker werfen, einen Beginn finden. Einen Ausgangspunkt zum Fantasieren, damit dieser Prozess beginnen konnte, den Paul Valery so treffend beschrieben hat: „Denken ist Durchstreichen.“ Für mich war vollkommen klar, dass ich mit Mozarts „La clemenza di Tito“ in der Felsenreitschule anfangen würde, weil dieses Stück für mich eine der profundesten Reflexionen über Macht und über die Frage des Vergebens bietet. Fest stand auch, dass ich zum Abschluss der Festspiele am selben Ort Reimanns „Lear“ präsentieren wollte, also ein Stück, das vom Einsamwerden, vom Irrwerden an der und durch die Macht handelt. Das waren die beiden Pole. Dazwischen ging es um politische und private Machtpositionen wie in der „Aida“ oder in „Lady Macbeth“ und um eine private Passionsgeschichte im „Wozzeck“, die durch die von William Kentridge vorgenommene Verortung im ersten Weltkrieg eine hohe politische Sprengkraft erhielt.
Sehen Sie das vor allem als Ihre Aufgabe als Intendant: Dinge zusammenzubringen, zusammenzudenken?
Ja. Das ist eine künstlerische Aufgabe, und Kunst hat mit Form zu tun. Deshalb muss mein Programm eine Form haben, sonst wird es beliebig. Ich bin kein Besserwisser und plane nicht mit pädagogischem Impetus, aber ich schaffe eine Reflexionsmöglichkeit, weil diese Werke uns die Möglichkeit geben, sie so zu lesen. Und weil sie die Welt differenzierter darstellen, als sie etwa in den Twitter-Botschaften des amtierenden amerikanischen Präsidenten erscheint. Ich will nicht die komplexesten Fragen mit der geringsten Anzahl von Buchstaben beantworten, sondern Gegenentwürfe zeigen, wie sie in diesen Werken aufscheinen.
Uraufführungen, haben Sie gesagt, stünden nicht im Zentrum Ihres Interesses. Warum?
Es ist erstaunlich, wie viele Wellen diese Aussage schlägt, die ich irgendwann mal rasch getätigt habe. Ich habe in Salzburg so viel Neue Musik veranstaltet, wie sie niemals mehr irgend ein anderer veranstalten wird – in der „Zeitfluss“-Reihe unter Gérard Mortier und dann auch während meiner fünf Jahre als Salzburger Konzertchef. Meine Aussage war vor allem eine reflexhafte Abwehr dieser Intendantenbefriedigung, die bei vielen einsetzen mag, die eine Uraufführung gestemmt haben, bei mir aber nicht.
Was ist eigentlich mit dem Opern-Kompositionsauftrag für György Kurtág, den Alexander Pereira vergeben hat?
Das war Pereiras Idee, da werde ich mich nicht einschalten. Und wenn das Stück fertig werden sollte, dann werde ich es in Mailand hören.
Verraten Sie schon etwas über künftige Spielpläne?
Nein. Weil es zu vieles gibt, an dem ich noch arbeiten muss. Vieles verändert sich auch noch. Aber die Form im nächsten Jahr wird derjenigen in dieser Saison ähneln.
Mit Teodor Currentzis und seinem Ensemble MusicAeterna haben Sie zum Auftakt der Festspiele erstmals ein historisch informiertes Ensemble mit Mozart betraut – also nicht die Wiener Philharmoniker, die dafür traditionsgemäß zuständig waren. Gibt es 2018 wieder Mozart mit den Philharmonikern?
Ja, aber mit einem hochinteressanten Dirigenten, der noch nie mit diesem Orchester gearbeitet hat und der mindestens so originär agiert wie Teodor Currentzis – obwohl er nicht so bekannt ist wie dieser. Wobei Currentzis und sein Ensemble in diesem Jahr in Salzburg ja etwas ganz Besonderes geschafft haben: Sie haben den „Titus“ entstehen lassen und nicht hergestellt. Das hat den Festspielen eine immense Vitalität gebracht. Deshalb wird Currentzis auch unbedingt wiederkommen.
Ebenso wie der Pianist Igor Levit oder die Mezzosopranistin Marianne Crebassa . . .
Ja, natürlich. Es ist auch eine meiner Aufgaben, eine Art sanften Generationswechsel einzuleiten, und der hat immer wieder auch mit einem ästhetischen Wandel zu tun. Ich bin unglaublich glücklich darüber, dass wir immer noch die Möglichkeit haben, Blomstedt zu hören oder Haitink. Aber dieses große Glück wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben, und dann muss etwas nachgewachsen sein.
Welcher Ihrer Vorgänger ist Ihnen besonders nah? Mortier? Ruzicka? Flimm? Pereira?
Ich mag über die Arbeit meiner Vorgänger nichts sagen - außer dass es da eine gewisse Heterogenität gab, die den Festspielen nicht immer gut tat. Aber meine Salzburg-Sozialisation unter Gérard Mortier hat mich sicherlich stark geprägt. Wobei seine Ära sicherlich in einer historisch ganz besonderen Situation fußte: Nach Jahrzehnten der Erstarrung musste hier unbedingt etwas Neues gemacht werden. Jetzt, 25 Jahre später, sieht das natürlich wieder vollkommen anders aus.
Wie haben sich die Salzburger Festspiele seit 1991, also nach der Ära Herbert von Karajans, verändert?
Nicht nur die Festspiele haben sich verändert, sondern das ganze System, und der eine oder andere hat darauf reagiert. Allein die Kommunikation hat sich total gewandelt – in diesem Sommer haben wir 563.000 E-Mails bekommen! Und das ganze Musiksystem ist heute anders, es gibt keinen jungen Dirigenten mehr, der nicht mindestens zwei Orchester hat, alle Sänger singen überall, und heute gibt es nicht nur die Salzburger Festspiele, sondern ein Festival neben dem anderen. Aber das Monopol Salzburg ist noch da: Die Salzburger Festspiele sind immer noch das ausstrahlungskräftigste Festival der Welt. Es gibt nichts Vergleichbares.
Was war 2017 für Sie der packendste, interessanteste Abend?
Das möchte ich nicht sagen, denn alle, die hier gearbeitet haben, habe ich mit dem größten Vertrauen eingeladen, und ich habe hoffentlich klar gemacht, dass es bei den Salzburger Festspielen um eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit Kunst geht. Das gilt selbst für die viel kritisierte „Aida“-Inszenierung von Shirin Neshat, denn auch hier ist etwas ganz anderes gezeigt worden als das Erwartbare – und das eben nicht aus irgendeinem Originalitätsdruck. Viele konnten mit der vorherrschenden Statik auf der Bühne nichts anfangen, aber die Entscheidung, die „Aida“ oratorisch zu sehen mit einem Triumphmarsch, in dem niemand marschiert, finde ich schlichtweg phänomenal. Eine Oper, in der ständig von Krieg gesungen wird, wird hier zu einem großen Antikriegsoratorium.
Ihr Vertrag geht über fünf Jahre, also bis 2021. Im Jahr 2020 feiern die Salzburger Festspiele ihr einhundertjähriges Bestehen. Denken Sie bei der Planung in eine ähnliche Richtung wie Peter Ruzicka, der 2006 als Intendant sämtliche 22 Mozart-Opern auf das Programm setzte?
Nein, denn das hat es ja nun schon gegeben.
Man könnte Strauss machen.
O nein, bestimmt nicht. Ach, und es gibt ohnehin nichts Schwierigeres als Anlass-Programmierungen. Übrigens kommt 2020 auch noch ein Beethoven-Jubiläum dazu . . . Oje, das wird problematisch. Man wird nachdenken müssen.

Zur Person:

Markus Hinterhäuser wurde 1958 in La Spezia/Italien geboren. Klavierstudium in Wien und Salzburg. Als Pianist hat er unter anderem intensiv mit der Sängerin Brigitte Fassbaender und mit dem Arditti String Quartet zusammengearbeitet und solistisch Musik des 20. Jahrhunderts (Zweite Wiener Schule, John Cage, Morton Feldman, Galina Ustwolskaja) auf CD eingespielt. 1993-2001 leitete Hinterhäuser das „Zeitfluss“-Festival der Salzburger Festspiele. 2007-2011 war er in Salzburg Konzertdirektor, 2011 Interimsintendant. Von 2014 bis 2016 leitete Hinterhäuser die Wiener Festwochen. Ab 2017 ist er mit einem Fünf-Jahres-Vertrag Intendant der Salzburger Festspiele.