Szene aus Edward Clugs „Nussknacker“ Foto: Roman Novitzky

Wir schauen auf die zurückliegende Saison des Stuttgarter Balletts: Gab es Überraschungen? Wie steht es um die Kompanie? Welche Vorstellungen lieferten bewegende Momente?

Zwei große Themen haben die Spielzeit bestimmt, die hinter dem Stuttgarter Ballett liegt. In der ersten Hälfte der Saison drehte sich fast alles um den neuen „Nussknacker“; ihr Ende war geprägt vom Todestag des Gründervaters John Cranko, der sich zum 50. Mal jährte. Zwischen diesen Eckpfeilern blieb wenig Spielraum, denn da waren noch die Dreharbeiten für Joachim A. Langs Spielfilm „Cranko“. Sie banden im Frühjahr über mehrere Wochen fast die ganze Kompanie ein und haben das Gefühl verstärkt, eine Saison lang vor allem in den Rückspiegel geschaut zu haben.

 

Kinofilm „Cranko“ kommt 2024

Auch wenn der Kinofilm erst 2024 herauskommt, konnte das Ballettpublikum unmittelbar von den neuen Erfahrungen der Solistinnen und Solisten profitieren. Wer sich so intensiv vor der Kamera mit der Entstehungsgeschichte von Crankos großen Balletten und mit ihren ersten Interpreten auseinandergesetzt hat, gibt diesen Rollen auch auf der Bühne neues Gewicht – „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“ boten Anlass.

Als choreografisches Leichtgewicht entpuppte sich dagegen Edward Clugs „Nussknacker“-Revision; Eindruck machte vor allem Jürgen Roses Ausstattung mit ihren Spielzeugfantasien, Walnusswelten und opulenten Weihnachtsszenerien, angesiedelt in der Epoche von E. T. A. Hoffmanns Märchenvorlage. 160 Kostüme hatte Rose, der schon Crankos Balletthits einkleidete, für „Nussknacker“ gestaltet – am Ende konnte sich der Tanz nicht frei machen von dieser Last, wirkte befangen und wie aus vergangenen Zeiten. Gern hätte man gewusst, was Clug im Kontext eines moderneren Konzepts eingefallen wäre.

Der Noverre-Nachwuchs hat frische Ideen

Immer für frische Ideen gut ist dafür der Noverre-Nachwuchs. Im Januar wagte die junge Choreografengeneration Ausflüge in die bildende Kunst oder ins Tanztheater. Vier internationale Gäste unterstrichen die große Aufmerksamkeit, die das Original des oft kopierten Formats weiterhin genießt.

Auf Stuttgart als Choreografenschmiede setzte Tamas Detrich auch mit dem „Creations“-Abend im Mai, alle Uraufführungen – es sind die Nummern 10–12 – waren hausgemacht. Vor allem „In esisto“ von Vittoria Girelli konnte mit stimmigem Konzept und meditativer Tanzästhetik überzeugen; die Italienerin ist zu Recht auch in der nächsten Spielzeit gefragt. Dramaturgisch zu ambitioniert machte sich Alessandro Giaquinto in „Ascaresa“ ans Werk, erst am Ende glückten ihm fein tänzelnde Szenen. Über virtuosen Momenten verlor Fabio Adorisio in seinem hochtourigen „Lost Room“ die Erzählung, die ihn inspirierte hatte, aus dem Blick.

Wiedersehen mit der „Kameliendame“

Vielleicht fehlten dem „Creations“-Trio in einer Saison mit vielen Wiederaufnahmen ja die Reibungen, wie sie Begegnungen mit unbekannten Tanzsprachen und Gastchoreografen sonst bieten? Zum Trost kehrte Jirí Kyliáns „One of a Kind“ zurück, das beim Gastspiel in Den Haag auf royales Interesse stieß und daheim in Stuttgart moderne Akzente setzte. Ein Wiedersehen gab es auch mit der „Kameliendame“, mit ihr war die Kompanie zu John Neumeiers Jubiläum nach Hamburg eingeladen.

Tamas Detrich, der nach wie vor bewusst auf einen Hauschoreografen oder eine Hauschoreografin verzichtet, hält offen, wohin seine Reise mit dem Stuttgarter Ballett künstlerisch geht. Tänzerisch hält er die Kompanie auf hohem Niveau und Crankos Erbe lebendig. Den 50. Todestag des Choreografen nutzte er für eine Art getanztes Familienfest, das ein Wiedersehen mit alten Bekannten und zeitlosen Bühnenhits bot. Das gehört beim Stuttgarter Ballett zum guten Ton; auch der aktuelle Intendant beherrscht die Klaviatur der Emotionen – bei der Gala etwa, die, konzentriert auf Crankos Tanzkunst, zwar frei von Überraschungen war. Aber zu sehen, wie eine neue Tänzergeneration Crankos Choreografien und Intentionen durchdringt, machte den fehlenden Blick nach vorn wett.

Emotional dichtes Erlebnis: „Remember Me“

Auch der Ballettabend „Remember Me“, der zum Saisonende Crankos „Initialen R.B.M.E.“ auf Kenneth MacMillans „Requiem“ treffen ließ, war ein emotional dichtes Erlebnis, tänzerisch wie musikalisch beeindruckend umgesetzt. Dass Cranko seine Kompanie 1972 endlich auf dem von ihm ersehnten Niveau hatte und sich vor ihr mit diesem Signaturstück verbeugte, machte das Ensemble in großer Besetzung ebenso greifbar wie die Trauer MacMillans über den zu frühen Tod eines Freundes und das Leiden an einer verpassten Aussöhnung. Da passte, dass Musikdirektor Mikhail Agrest am Pult stand. Nach der Beilegung des Rechtsstreits und der Rückkehr des Dirigenten in dieser Saison arbeiten beide Seiten am Kitten des beschädigten Vertrauens. Zu lernen war: Um Kunst voranzubringen, braucht es eine starke Gemeinschaft, die Reibungen nicht nur aushält, sondern an ihnen wächst. Crankos „Initialen“-Botschaft hat auch heute noch Bestand.

Reihe: Es folgen die Saisonbilanzen des Schauspiels und der Oper Stuttgart.

Plus- und Minuspunkte der Ballettsaison auf einen Blick

Schön war . . .
dass die ehemaligen Tänzer Louis Stiens und Shaked Heller mit dem Duett „In My Room“ und einer aktuellen Perspektive auf Tanz und Beziehungen provozieren durften.

Schade war . . .
dass der beim Publikum sehr beliebte Noverre-Nachwuchs nicht mehr Aufführungen erhält. Ein Streamingangebot ist da nur ein kleiner Trost.