Auch das Sozialwesen hat Tradition. Die Wärmestube erinnert dran. Foto: factum/Granville

Die merkwürdige Unwirtlichkeit des Hospitalviertels wurzelt tief in seiner Vergangenheit.

S-Mitte - Vor der Hospitalkirche wird Geschichte mit Füßen getreten. „Der Schachtdeckel ist von 1896“, sagt Eberhard Schwarz und zeigt auf den Boden. 21 Augenpaare senken sich für einen Blick auf den gusseisernen Zeugen der Vergangenheit. Die ist glorreich, in Vergessenheit geraten und „nur noch an sehr wenigen historischen Bauten sichtbar“, sagt Schwarz und geht weiter, einer Gruppe Geschichtsinteressierter voran. Die Geschichte des Hospitalviertels ist in der Vergangenheit auch bildhaft mit Füßen getreten worden. Dass sein Name auf die Gründung des Katharinenspitals im 16. Jahrhundert zurückgeht, selbst dies dürfte außerhalb dieser Runde kaum ein Stuttgarter wissen.

Schwarz ist Pfarrer im Quartier. An diesem Abend ist er aber überwiegend Vorsitzender des Forums Hospitalviertel, eines Vereins, der sich um das Wohl der Bewohner im Stadtteil bemüht. Der wenigen Bewohner: Etwa 1000 werden es inzwischen wieder sein, nachdem die Stadt sich bemüht, das Zentrum für Dienstleistungen aller Art wieder lebenswert zu gestalten. Dass es einmal lebenswert war und wieder lebenswert werden kann, erklärt Schwarz bei Führungen. Diese nennt er „politisch“. Das lässt sich sowohl historisch als auch aktuell verstehen.

Das Hospitalviertel als Abstellplatz für Autos

Einst war das Hospitalviertel bevorzugter Wohnort der avancierten Bürgerschaft. Hier ließ sich im 15. Jahrhundert Graf Ulrich, der Vielgeliebte, mit seiner Elisabeth vermählen, „in zweiter Ehe mit einer Tochter des Papstes“, sagt Schwarz. „Das funktionierte damals noch.“ Von hier aus sollte ein Dominikanerkloster Bildung und Seelsorge verbreiten. Hier entwickelte sich, ausgehend vom Gymnasium illustre, das Herzog Carl Eugen gründen ließ, das Stuttgarter Schulwesen. Hier wurde 1500 der älteste Verein der Stadt gegründet, die Schützengilde, die heute noch existiert. Hier wurde 1896, zwei Jahre bevor Edison der Reihe seiner Erfindungen den elektrischen Stuhl hinzufügte, mit einer Ausstellung über die Elektrizität das heutige Haus der Wirtschaft eröffnet. Hier entwickelte sich, ausgehend von den frommen Frauen eines Beginenhauses, das Sozialwesen.

Letztere Tradition ist – aus sozialpolitischer Sicht bedauerlicherweise – heute noch unübersehbar. Die evangelische Gesellschaft öffnet hier ihre Wärmestube, sie berät in ihrer Zentrale an der Büchsenstraße Verschuldete, Aidskranke, Frauen in Not, eigentlich jeden, der auf der Suche nach Hilfe nicht weiter weiß. Die Zahl derer wird in naher Zukunft schwerlich sinken. „Uns beschäftigt gerade, was mit all den Arbeitern aus Ost- und Südeuropa ist, die auf den vielen Baustellen in der Stadt arbeiten“, sagt Schwarz. „Die haben hier keinerlei soziale Anbindung.“

Ein anderes Problem wurzelt ebenfalls tief in der Vergangenheit des Hospitalviertels: seine merkwürdige Unwirtlichkeit. So nah es dem Tosen des Stadtlebens ist, so fern ist es dem Geist der Städter. Die Synagoge dürften Kundige als Kulturgut wahrnehmen, das Jugendhaus Mitte als Veranstaltungszentrum. Der Einzug des Renitenztheaters gleich bei der Hospitalkirche wurde gefeiert. Aber: Gehen wir einkaufen im Hospitalviertel, ein Glas Wein trinken? Diese Frage stellt wohl kaum ein Stuttgarter dem anderen. Die Ziele des städtischen Lebens sind andere. Das Hospitalviertel wird allenfalls wahrgenommen als Möglichkeit, sein Auto abzustellen.

Die Schönheit der Plätze ist verloren

Das liegt nicht nur daran, dass in der Eile des Wiederaufbaus nach dem Krieg hier bewusst Gewerbe konzentriert wurde. Schon viel früher in der Geschichte des Quartiers „hat man hier eine Blockbebauung nach innen orientiert“, sagt Schwarz. Er steht im Innenhof der Evangelischen Gesellschaft vor einem kunstvoll verzierten Klinkerbau. „Das haben Sie wahrscheinlich nicht erwartet, dass Sie hier ein solches Haus sehen“, sagt er. Niemand widerspricht. Hier saß einst die Herrschaft, parlierend und philosophierend. Für die Öffentlichkeit ist die Schönheit dieser Plätze verloren. „Einer unserer Wünsche ist, die Innenhöfe wieder zu öffnen“, sagt Schwarz. „In Berlin ist das beispielhaft gelungen.“

Dass die Aufgabe insgesamt erkannt ist, ist nervtötend unüberhörbar. Baumaschinen oder Betonmischer übertönen immer wieder, was Schwarz zu sagen hat. Die meisten fahren die Baustelle an, auf der derzeit der Hospitalhof neu entsteht. Weitere Baugruben sind erwünscht. Schon vor fünf Jahren erklärte der Gemeinderat das Quartier zum offiziellen Sanierungsgebiet. 2010 hat das Stadtplanungsamt einen Gesamtplan niederschreiben lassen – 50 Seiten „Missstandsanalyse und Zielplanung“, samt einem Verzeichnis jedes bestehenden und zu pflanzenden Baumes. Allerdings verharrt Beton, wenn er einmal ausgegossen ist, bekanntlich starr. Am 7. November ist erst einmal die nächste Runde geplant, bei der die Bürger gefragt werden, wie sie sich das Hospitalviertel der Zukunft vorstellen.