Direkt am einsamen Ostufer des Baikalsees führt der Wanderweg entlang. Foto: Eichmüller

Der Baikalsee in Sibirien ist der größte Süßwassersee der Erde. Am Ostufer lockt die Wildnis.

Frank klingt fast wie Thomas Gottschalk. "Ich wette, dass es niemandem gelingt, eine Schaffnerin der Transsibirischen Eisenbahn zum Lachen zu bringen." Der 37-jährige Berliner muss es wissen. Er hat in Sankt Petersburg studiert und war zehn Jahre mit einer Russin verheiratet. Ob sie Schaffnerin war? Wir, sechs Trekkingurlauber, sind nach einem Nachtflug von Moskau vor 23 Stunden in Irkutsk in den Zug gestiegen und beginnen zu ahnen, dass wir auch in den nächsten zehn Stunden bis zur Ankunft am Nordwestufer des Baikalsees mit unserem Charme bei der Schaffnerin nicht landen können.

Dann hilft der Zufall. Bei der Rückkehr aus dem Speisewagen liegt ein Fremder in unserem Abteil. Bett 21, oben rechts. Rütteln zwecklos. Die Schaffnerin muss ran. Karina schreitet, von unseren Kameras beobachtet, resolut ein. Am Ende fallen derbe Worte. Während sich der Unbekannte ins eigene Abteil trollt, will die Schaffnerin die Fotos sehen – und lacht sich kaputt. Karina und die Wodkaleiche. Doch dann verlangt die 23-Jährige das Löschen einzelner Fotos. Ein Bild von ihr mit geschlossenen Augen, das geht gar nicht. Wir lernen: Eine russische Schaffnerin hat die Augen immer offen – und kann lachen.

Nach zwei Nächten im Zug erreichen wir Severobaikalsk am Baikalsee. Die Kleinstadt mit ihren einförmigen Wohnblocks ist erst vor 30Jahren beim Bau der Baikal-Amur-Magistrale entstanden. Evgenij erwartet uns und verspricht eine Dusche. Der 58-Jährige war als junger Ingenieur begeistert beim Bau der Bahnlinie dabei. Heute betreibt er ein kleines Hostel und organisiert Wandertouren. Evgenij drängt zur Eile. Proviant muss gekauft werden. Der See ist ruhig, das Boot wartet.

Der Baikalsee ist 700 Kilometer lang, 30bis 80 Kilometer breit und bis zu 1600 Meter tief. Seine Entstehung vor 30 Millionen Jahren verdankt er geologischen Kräften, die einen gigantischen Graben entstehen ließen. Es gibt immer wieder Erdbeben, heiße Quellen zeugen von tektonischer Aktivität. Unser Motorboot jagt über die spiegelglatte Wasserfläche. Die weltweit einzigartigen Süßwasserrobben zeigen sich nicht. Unser Ziel ist die menschenleere Wildnis am Ostufer. Wir wollen einen 70 Kilometer langer Wanderweg bewältigen, den Frolikha Adventure Coastline Trail (FACT), an dem höchstens ein Dutzend versteckter Blockhütten liegen. Im Hinterland befindet sich das Barguzinsky-Reservat, eines der ältesten Naturschutzgebiete Russlands. Zu verdanken ist es Zar Nikolaus II., der 1916 eines der letzten Rückzugsgebiete des Zobels schützen ließ.

Statt auf Zobel treffen wir auf einen schwarzen Hund, der aus dem Nichts auftaucht und uns nicht von der Seite weicht. Mit heraushängender Zunge rennt er uns voraus, jagt zurück. Immer wieder. Sind wir seine Herde? Oder will er uns vor Braunbären schützen, auf deren Hinterlassenschaften wir immer wieder stoßen? Seit 2004 versucht eine Initiative von russischen, amerikanischen und deutschen Umweltschützern, einen 2100 Kilometer langen Wanderweg rund um den See zu bauen. Entstanden sind inzwischen fünf Teilstücke mit einer Länge von 470 Kilometern. Ob es mehr werden, ist ungewiss. "Wir suchen Freiwillige von 18 bis 80", hatte uns Olga von der Non-Profit-Organisation Great-Baikal-Trail vor ein paar Tagen in Irkutsk erzählt. Freiwillige wie die junge Amerikanerin Diana, die sich beim Wegebau ins Zeug legt. "Wer hätte gedacht, dass trotz anstrengender Arbeit der Schutz der Natur das Herz so wärmt."

Auch uns wird warm. Denn der Pfad am Nordostufer des Sees hat wenig mit den gepflegten Wanderwegen Mitteleuropas gemein. Mal kämpft sich die Gruppe auf Wildwechseln durchs Gestrüpp, mal eiert sie auf grobem Geröll im Flachwasser daher. "Knochenküste", nennt das Tom Umbreit. Der Jurist aus Dresden hat hier vor zwei Jahren mit 15 Freiwilligen einen schwierigen Wegabschnitt gebaut.

Plötzlich stehen wir buchstäblich im Wald. Wir haben eine Wegmarkierung übersehen und den Einstieg in einen Hang verpasst. "Markierungen halten im sibirischen Klima nicht lang", sagt Frank Fabian, Vorsitzender des Vereins Baikalplan. Von Beruf ist er Teamleiter beim IT-Unternehmen Hewlett-Packard, das den Wegebau als Sponsor unterstützt. "Im Sommer 2011 werden die Farbmarkierungen erneuert", sagt Frank. Auch junge HP-Mitarbeiter aus aller Welt sollen dabei zum Pinsel greifen. Uns hilft das wenig. Wir müssen durchs Unterholz. Immer wieder bleiben die schweren Rucksäcke hängen. Zum Beerensammeln hat keiner Lust. Äste peitschen ins Gesicht, Stiefel stolpern über morsches Holz und versinken im Morast. Myriaden von Stechmücken fliegen auf. "Jetzt fehlt nur noch ein Bär", stöhnt Uwe.

Das hätte er nicht sagen sollen. Ein paar Kilometer weiter stoßen wir auf frische Spuren. Im Gebüsch raschelt es. Unwillig brummend macht sich ein Bär davon. Aber nur, um brüllend kehrtzumachen und erst dann endgültig das Weite zu suchen.

Am Lagerfeuer erklärt Evgenij später das Verhalten des Bären. "Einen Scheinangriff macht er, wenn er Angst hat." Doch zu diesem Zeitpunkt ist der Bär dank der Schilderungen von Martin längst überlebensgroß geworden. Mit jeder Tasse Taiga-Tee und mit jedem Schluck Wodka wird die Bestie größer – und unsere Unerschrockenheit Legende.

Doch der gefährlichste russische Bär lebt nicht am See, sondern im fernen Moskau. Vergangenes Jahr hat Präsident Putin die Schließung einer Papierfabrik aufgehoben, die Abwässer am Südufer einleitet. Jetzt droht weiteres Ungemach. Für das wilde Nordostufer läuft ein staatliches Verpachtungsverfahren. Jeder Russe kann sich dort für wenig Geld auf 49 Jahre Grundstücke sichern.

Der Gefahr der Zersiedelung setzen Umweltaktivisten wie Frank und Tom ihren Plan vom Wanderweg entgegen. Sie hoffen auf sanften Tourismus. Hilfe verspricht Landrat Igor Walerjewitsch Pucharew. "Wir unterstützen den Ökotourismus." Doch was ist dieses Versprechen wert? Frank ist skeptisch. "Hier versteht man unter Ökotourismus die Jagd." Auch an höchster Stelle. Vor ein paar Jahren kam der Gouverneur von Irkutsk bei der illegalen Hubschrauberjagd ums Leben.

Kein Wunder, dass der Baikal grollt. Als wir am letzten Tag unserer Wanderung in Chakussy, einer Ansammlung von Blockhäusern um eine heiße Quelle, ans Ufer kommen, tobt der See. Kaum hat unser kleines Motorboot die schützende Bucht verlassen, stürzen Brecher über die Bordwand. Wir müssen leider zurück. Dort erfahren wir, dass heute auch die reguläre Fähre vom Gegenufer nicht ausläuft. Unser Zeitplan für den Weiterflug nach Ulan-Ude und die Rückkehr nach Moskau ist akut gefährdet.

Am Abend versammelt sich die Wandergruppe am Ufer und schaut auf kochendes Wasser. "Wir müssen Burchan, dem Gott des Baikal, ein Opfer bringen", sagt Frank. Mit dem Ringfinger verspritzt er fünfmal Wodka in die Wellen. Auch wir opfern unseren Teil. Am Morgen liegt der See ruhig. Die Fähre kommt. Und Burchan lächelt.

Baikalsee

Anreise
Mit den Flugzeug über Moskau nach Irkutsk. Von dort Zugfahrt (33 Std.) über Taitshet nach Severobajkalsk. Alternativ ist die Schnellfähre (12 Std.), die allerdings oft nicht zuverlässig verkehrt.

Reisezeit
Mai bis September. Von Ende Januar bis in den April ist der See zugefroren. Ideal für Eiswanderer.

Veranstalter
Der Verein Baikalplan und andere Organisationen suchen Freiwillige für den Wegebau. Zwei Wochen (Juli, August) mit Flug, Unterkunft und Verpflegung kosten 1000 Euro; www.baikalplan.de, www.greatbaikaltrail.org. Die Wanderung wird auch von Diamir Erlebnisreisen angeboten, www.diamir.de

Was Sie tun und lassen sollten
Auf jeden Fall sollten Sie einen Besuch in der Banja, dem russischen Dampfbad, einplanen. Zu empfehlen sind auch Zirbelnüsschen, die rohen oder gerösteten Kerne der Zirbelkiefer. Auf keinen Fall sollten Sie einen Zeitpuffer für die Rückfahrt vergessen – der See ist oft sehr stürmisch.