Die Haare werden im mobilen Salon nicht schöner – dafür gibt es aber Inspirationen satt. Foto: factum/

Außergewöhnliche Lebensgeschichten und ein mobiler Friseursalon: Das neue Projekt der Kulturregion Stuttgart ist eine kleine Wunderkammer. Am Wochenende rollt sie in Gerlingen los.

Gerlingen - Mit ihrem Mann Harald alt zu werden, das war Marie Christine Schneider nicht vergönnt. Er starb vor vielen Jahren. Die Geschichte ihrer besonderen Ehe – es war die erste und einzige, die aus der Städtepartnerschaft zwischen Gerlingen und Vesoul in Frankreich hervorging – lebt jedoch in der Erinnerung vieler Menschen in den Partnerstädten weiter. Und nun auch in einem inspirierenden Projekt der Kulturregion Stuttgart.

Für die Aktion „Geschichten unter der Haube“ interviewten Simon Kubat, Christian Müller und Jonas Bolle vom Stuttgarter Citizen.Kane.Kollektiv Menschen aus dem ganzen Großraum und gossen die Essenz der Gespräche in eigene, kurze Texte, die von Profis eingesprochen wurden. Das Ergebnis ist eine akustische Wunderkammer, die Anrührendes, Lustiges, Melancholisches und Beflügelndes bereit hält – in einem idealtypischen Ambiente für Menschelndes: einem rollenden Friseursalon. „Wir wollten einen Raum, den man als öffentlichen Treffpunkt wahrnimmt. Einen Salon, den man gern betritt und in dem man ins Gespräch kommt“, sagt Bettina Pau, Geschäftsführerin der Kulturregion Stuttgart, über die Idee.

Geschichten unter der Trockenhaube

Begibt man sich in dem zur Frisierstube im Retro-Look umgebauten Bauwagen unter eine der Trockenhauben aus den 1960er-Jahren, taucht man ein in die Welt der Frauen und Männer, die den Autoren vom Citizen.Kane.Kollektiv ihre Geschichten anvertraut haben. Menschen, die einst als Gastarbeiter kamen und mit der Diskrepanz von Erwartung und Wirklichkeit klar kommen mussten. Menschen, die Schulen gründeten oder Menschen, die dem letzten Laden in ihrem Ort hinterhertrauern. Manche führen seit Generationen ein Familienhandwerk fort, andere wollen über Kultur Frieden schaffen.

Der rote Faden: Die Geschichten sollten sich in den Themenfeldern Paradies, erste Liebe, Arbeit, Gastarbeit, Erfindungen und Unternehmertum bewegen – Lebensbereiche, in denen sich Prägendes ereignet und die, zumindest in Teilen, charakteristisch für die prosperierende Region Stuttgart sind. Die Interviewpartner fand die Kulturregion durch Tipps aus ihren Mitgliedskommunen. Dass etwa die Französin Marie Christine Schneider für das Projekt prädestiniert sein könnte, dachte sich die Gerlinger Hauptamtsleiterin Ulrike Hoffmann-Heer, die sich auch um die Städtepartnerschaften kümmert.

Die Musik brachte sie zusammen

Blutjunge 15 Jahre war die Marie Christine, als sie über den Austausch der Musikvereine Gerlingen und Vesoul ihrem Zukünftigen begegnete: Sie spielte Saxofon, er Tuba. Sie konnte kein Wort Deutsch, er kein Wort Französisch. Sie verständigten sich per Lexikon; beim Briefe-Übersetzen halfen ihr Chef in Frankreich und sein Musikvereins-Kamerad in Gerlingen, der spätere Erste Beigeordnete Dietrich Schönfelder. Als Marie Christine ihrem Liebsten nach Deutschland folgen wollte, dekretierte ihre Mutter: „Nicht ohne Ring am Finger!“ Als das Paar heiratete, war Marie Christine 17 Jahre alt.

Noch heute erinnert sie sich, wie sie sich für den ersten Einkauf in der Bäckerei das Wort „Brot“ gemerkt hatte, die Verkäuferin statt „Brot für Schneider“ aber „Brotschneider“ verstand und der jungen Französin beschied, so etwas habe sie nicht im Angebot. Die Verzweiflung über solche Sprachbarrieren hielt aber nicht lange an: „Innerhalb von drei Monaten konnte ich mich unterhalten“, erzählt Marie Christine Schneider. Heute lebt die 60-Jährige wieder in Vesoul und übersetzt für deutsche und französische Vereine und sieht sich als Bindeglied für die Städtepartnerschaft.

Der Salon tourt noch bis Ende Oktober

Zum Auftakt der „Geschichten unter der Haube“-Tour reiste sie eigens in ihre langjährige deutsche Heimat – wollte sie doch wissen, wie der 29-jährige Simon Kubat ihre Unterhaltung künstlerisch umgesetzt hat. „Mir war es wichtig, eine gute Mischung zu finden aus dem Eindruck, den ich von meinen Gesprächspartnern gewonnen hatte, und einem Punkt, der mir besonders wichtig erschien“, sagt Kubat. „Natürlich musste ich sehr verkürzen.“ Etwas nervös sei er daher schon gewesen angesichts der Frage, ob er seinen Protagonisten gerecht geworden sei. Marie Christine Schneider jedenfalls ist sehr d’accord mit ihrer Geschichte.

Und Bürgermeister Georg Brenner freut sich, „dass die große Kleinstadt Gerlingen zumindest für eine kurze Zeit die Kulturhauptstadt der Region Stuttgart ist“. Über das Wochenende macht der Geschichten-Salon auf dem Gerlinger Rathausplatz Station und ist am Samstagabend, wenn Bosch Big Band und Bosch Jazz Orchestra spielen, auch länger geöffnet. Danach tourt der Wagen durch 22 weitere Kommunen in der Region.