Ein zeitgenössisches Porträt des deutschen Komponisten Robert Schumann Foto: dpa

Die Musikwelt feiert den 200. Geburtstag des deutschen Komponisten Robert Schumann.

Stuttgart - Robert Schumanns wohl berühmtestes Stück passt auf eine DIN-A4-Seite und dauert höchstens zweieinhalb Minuten. Was ist an der "Träumerei" aus dem 1838 komponierten Klavierzyklus "Kinderszenen" romantisch? Und warum finden so viele Zuhörer diese Musik schön?

24 Takte Träumen in Tönen. Ein "kleines putziges Ding", teilte der damals 37-jährige Komponist seiner Verlobten Clara Wieck im Februar 1838 mit, sei die siebente seiner 13 "Kinderszenen" für Klavier geworden. Clara war eine gefeierte Konzertpianistin - "Du wirst Dich", schrieb Schumann ihr später über den Zyklus, "daran erfreuen, mußt Dich aber freilich als Virtuosin vergessen."

Das Symmetrische reibt sich am Asymmetrischen

Nach ihrer späten Drucklegung machten die "Kinderszenen" und machte vor allem die "Träumerei" in den bürgerlichen Salons und Konzertsälen eine steile Karriere. Daran konnte auch der seinerzeit populäre Kritiker Ludwig Rellstab nichts ändern. "Ein Kind", ätzte dieser, "das nicht drei Hände hat, kann diese kleinen Stückchen nicht spielen . . . Hauptsächlich ist aber der geistige Gehalt dieser Sätzchen durchaus nicht für das Kind."

Hier irrt der Kritiker tatsächlich nicht: Die musikalischen Miniaturen mit ihren sprechend-programmatischen Titeln sind, wie es der Komponist später formulierte, "Rückspiegelung eines Älteren und für Ältere". Es geht also nicht um eine natürliche, sondern um eine künstlich hergestellte Naivität - eben um jene Unschuld, die in den Augen vieler Künstler des 19. Jahrhunderts eine der Grundvoraussetzungen für einen unverstellt poetischen Blick auf die Welt bildete.

Auch die "Träumerei" ist nur scheinbar einfach. Auf den ersten Blick wirkt die sangliche Melodie flüssig, weich, ausgewogen - wie ein Lied, das man einfach so vor sich hin singt. Auf den zweiten Blick jedoch entdeckt man die kompositorische Raffinesse: Immer wieder findet sich hier eine "falsche" Betonung auf dem normalerweise "leichten", unbedeutenden zweiten Schlag des Viervierteltaktes, immer wieder reibt sich also das Symmetrische am Asymmetrischen, das Natürliche am Konstruierten.

Zurück bleibt die Sehnsucht

Der wenig vorgebildete Hörer wird dies emotional aufnehmen - als Störung des Gleichgewichts, als kaum verortbare Irritation. Der kundige Hörer vernimmt das schwere F-Dur, das im zweiten Takt mit viel Effekt einen ganzen Schlag zu spät kommt (Schumann selbst hat später einmal die "Auflösung der Taktschwere" als "höhere poetische Interpunktion" beschrieben), und er hört auch, dass die Akkorde im Laufe des Stücks immer spannungsvoller werden.

Die Selbstbehauptung des Künstlers gegenüber der Konvention und dem "Zeitgeist", wie sie für die Epoche der Romantik prägend ist: In Schumanns "Träumerei" lässt sie sich mit den Ohren begreifen. Typisch "romantisch" sind hier auch der programmatische Titel und die Auflösung der klassischen Form. Trotzdem hat nicht nur der Kritiker Rellstab die Bedeutung des Stücks verkannt. Für eines der meistdiskutierten Fehlurteile über die "Träumerei" sorgte kein Geringerer als Hans Pfitzner. In seinem Aufsatz "Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz" beschrieb der Komponist 1920 Schumanns Stück als Frucht reiner künstlerischer Inspiration: Zu hören sei in der "Träumerei" "keinerlei Abweichung vom Üblichen", stattdessen "Zartes, Trauliches", auch "Deutsches". Letzteres greift sogar noch Otto Schumann in seinem 1978 erschienenen und bis heute erhältlichen Klaviermusikführer auf. Die "Kinderszenen", wagt der Autor hier zu schreiben, seien "so deutsch empfunden und gestaltet, dass ein anderes Volk kaum imstande sein dürfte, ihren eigentümlichen Zauber völlig nachzuleben". Für seine These liefern die Pianisten Martha Argerich und Alfred Brendel mit ihren unsentimentalen Interpretationen der "Träumerei" die besten Gegenargumente.

Zurück bleibt die Sehnsucht

Den prominentesten Widerspruch erfuhr Pfitzner übrigens von seinem Komponisten-Kollegen Alban Berg: Noch 1920 wies dieser in seinem Aufsatz "Die musikalische Impotenz der ,neuen Ästhetik' Hans Pfitzners" nach, dass die "Träumerei" keineswegs nur das simple Ergebnis einer diffusen künstlerischen Eingebung ist. Der nachfolgende Versuch, durch eine Analyse der Form das Phänomen der Schönheit zu begründen, konnte Berg allerdings nicht gelingen. Wie und warum Schönheit in einzelnen Kunstwerken zustande kommt, lässt sich wohl erklären - doch hat, wer Schönes empfindet, noch lange nicht das Stück als Ganzes verstanden, und ein Rezept für die Herstellung von Schönheit gibt es gleich gar nicht. "Alles Schöne", schrieb Schumann selbst, "ist schwer, und das Kurze am schwersten."

In der "Träumerei" stellt sich Schönheit vor allem durch die ideale Balance von Natürlichkeit und Künstlichkeit, Objektivität und Subjektivität, Konvention und Außerordentlichkeit her - wer dächte da nicht an jenen "präzisen Träumer", als den Peter Härtling den Komponisten in seinem Roman "Schumanns Schatten" so treffend beschreibt?

Grundsätzlich aber bleibt Schönheit eine Utopie; zumal in der zeitgebundenen Kunst Musik huschen schöne Momente oft kaum greifbar vorüber. Zurück bleibt die Sehnsucht. Man kann das "Verweile doch, du bist so schön!" herbeiträumen. Mehr nicht.