Das Milaneo, Einkaufstempel beim Hauptbahnhof Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Viel Feind, viel Ehr’. Was hat man dem Milaneo nicht alles nachgesagt. Es töte den Handel in der Innenstadt und den Bezirken, so wie in der Region. Feinstaub schleppe es ein und Stau. Kann ein Einkaufszentrum schlecht sein? Ein Besuch im Milaneo.

Stuttgart - Es muss dieses Lied sein, natürlich. Man öffnet im Parkhaus die Türe des Autos und schon weht einen „Last Christmas“ von Wham an. Die Weihnachtsschnulze schlechthin, in der es eigentlich gar nicht um Weihnachten geht, sondern um eine verflossene Liebe. Wie passend. Geht es doch beim Weihnachtsgeschäft auch nicht um Weihnachten, sondern ums Geld verdienen. Und das geht am besten, wenn sich die Kunden wohlfühlen. Vor gut 60 Jahren hat der gebürtige Österreicher Victor Gruen sich darüber Gedanken gemacht. Er entwarf nicht nur die erste Fußgängerzone Wiens und in Los Angeles das erste Kaufhaus mit Parkdeck auf dem Dach, sondern 1956 die erste Shopping Mall der Welt, das Southdale Center bei Minneapolis. Mit Läden, einer Schule, einem Hörsaal und einem Eislaufplatz.

Eine Schule findet sich im Milaneo nicht. Dafür recht viele Schüler. Das allerdings liegt an Primark. Die Modekette aus Irland verkauft Klamotten aller Art auf drei Stockwerken als so genannter Ankermieter. Also als der Laden, der die Kundschaft lockt, weil es ihn erst wieder weit entfernt gibt. Wie im Fall von Primark in Karlsruhe. Was den Laden so attraktiv macht, erschließt sich einem älteren Menschen, also einem volljährigen, nur mit Mühe. 20 ist die absolute Grenze, sowohl für die Preise wie für das Lebensalter der Kunden. Es ist eine Leistungsschau der Kieferorthopäden der Stadt, nirgends sieht man so viele Zahnspangen auf einem Haufen wie hier. Zyniker sagen, hier gibt’s Sachen von Kindern für Kinder.

Doch wer will es ihnen vorwerfen bei solchen Vorbildern? Wenn Erwachsene Geiz geil finden, warum sollen es dann die Sprösslinge nicht nachmachen. Und so stopfen sie unverdrossen Plüschiges und Rosafarbenes, Neon-Büstenhalter und Slim-Fit-Jeans in die Stofftaschen, die am Eingang bereitliegen. Warum man auch T-Shirts mit den Aufdrucken Run DMC, Pink Floyd, Ramones finden kann, bleibt ein Rätsel. Oder sind das Weihnachtsgeschenke für Opa und Oma? Beim Herausgehen sieht der Beobachter eine Karte von Stuttgart, die auf eine Wand gemalt ist. Mühlhausen und Gaisburg kennen wir, aber was ist Lenzhalder?

So ganz scheint Primark also noch nicht angekommen zu sein. Man wurde ja auch mit Protest empfangen, „gegen hirnlosen Konsum“ stand auf einem Plakat. Wie überhaupt das Milaneo nicht gerade willkommen geheißen wurde. „Müllaneo“, schmähen die einen, bei der 250. Montagsdemo forderte man von der Bühne herab zum Boykott auf, die Politik, besorgte Bürger und natürlich die Konkurrenz diskutieren über Staus, Feinstaub, Parkplätze, Verdrängungswettbewerb, sehen alsbald die Innenstadt öde und verlassen. Nicht nur beim Tunnelbohren geht es jetzt um das große Ganze, die Fehler des Kapitalismus, das Versagen der Demokratie, um die eigene Moral und vor allem die der anderen, sondern auch beim Einkaufen.

Offenbar hat diese Kritik die Eigentümer und Verwalter des Gebäudes dünnhäutig gemacht. Wenn man Fotos machen will, muss der Fotograf unterschreiben, dass durch seine Arbeit nicht das Image des Milaneo beschädigt werde. Welcher Art Bilder das sein könnten, wird nicht erklärt. Etwa solche der polnischen Modekette Reserved, die sich vehement gegen die Wahl eines Betriebsrats wehrt?

Es gibt nichts Anstößiges zu entdecken. Wer sich umschaut und durch die drei miteinander verbunden Gebäude schlendert, findet die Königstraße wieder. Bloß nicht aneinander gereiht, sondern auf drei Stockwerken gestapelt. Und unter einem Dach. Die üblichen Verdächtigen sind da: H & M, Zara, Media-Markt, Deichmann, Desigual, dm, Douglas, Depot, Jack Wolfskin, und, und, und. Sowie im Zentrum ein so genannter Food Court. Sushi, Donuts, Brezeln, Burger, Nudeln, Döner, Köttbullar, Pizza locken die Hungrigen in die Mitte der Mall. Auf dass man auf dem Weg möglichst viele Schaufenster passiert.

Nichts soll beim Einkaufen stören, ganz leise, fast unsichtbar, huschen deshalb dienstbare Geister umher. Man kann vom Boden essen, so geschleckt ist es. Dreck, Lärm, Kälte und Bettler, überhaupt die ganzen Fährnisse des Daseins bleiben draußen, stattdessen erwartet den Besucher laut Milaneo „eine neue Lebenswelt“. Die ist so glatt und gefällig, dass man stutzt, als man Pflanzen entdeckt. So sattgrün sind sie, dass man glaubt, die müssen aus Plastik sein. Doch stecken in den Töpfen Wasserstandsanzeiger. Was ist echt? Was ist künstlich? Das ist hier nicht wichtig. Alles dient einem Zweck. Der steht an den Türen der Frauentoiletten: „Und jetzt? Weitershoppen.“

Der Kundschaft gefällt’s. „Sauber“ und „gepflegt“ sind nicht umsonst zwei der Argumente, die wir bei unserer ganz persönlichen und nicht repräsentativen Meinungsforschung hören, als wir fragen, warum man hier einkauft. „Praktisch“, „alles beieinander“, „nicht weit zum Parkplatz“, „trocken und warm“, „genügend Toiletten“, „man kann sich überall hinsetzen und ausruhen“, erfahren wir. Sowie: „Ich lasse mir die Haare schneiden!“ Aha.

Es gibt nicht nur Friseure, eine Reinigung, eine Bankfiliale, ein Reisebüro, man kann sich auch die Nägel richten und die Körperhaare weglasern lassen. Und in die Häuser auf dem Dach werden bald Hunderte Mieter einziehen. Einen Platz schaffen nur zum Einkaufen ist nicht mehr genug. Die 1 Utama Mall in Malaysia lockt mit Regenwald und einem Dachgarten, die Central World in Bangkok protzt mit einem Salzwassersee samt Seelöwen, die Dubai Mall integriert eine Eislaufbahn und ein Aquarium. Ebenfalls in Dubai plant Bin Raschid Al Maktum die Mall of the World, knapp 750 000 Quadratmeter groß, also 105 Fußballfelder, mit 100 Hotels, Appartements, Theater und Freizeitpark. Es lockt das Paradies – aus dem man nur vertrieben wird, wenn das Geld ausgeht.

Fabelhaftes findet sich auch im Milaneo. Ein Einhorn ist dort angepfercht. Zwei Euro kostet ein Ritt. Das Horn soll ja Heilkräfte haben. Doch einen Goldesel könnte man jetzt dringender gebrauchen. Leider führt den keiner der 200 Läden. Also laufen wir zurück zum Auto und werden begleitet von Wham. Natürlich muss es dieses Lied sein: „Last Christmas“.