Die jüdische Gemeinde Esslingen hat heute etwa 300 Mitglieder – und eine lange, wechselvolle Historie. Georg Wötzer beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit ihr.
Georg Wötzer kennt die Sitten und Gebräuche des jüdischen Lebens bestens. Der Vorsitzende des Vereins Freunde jüdischer Kultur Esslingen ist Protestant – das Judentum hat er jedoch schon früh kennengelernt und über viele Jahre beim ehemaligen Landesrabbiner Netanel Wurmser studiert. In dem von Wötzer im Jahr 2005 gegründeten überkonfessionellen Verein haben Esslinger Bürgerinnen und Bürger zusammengefunden, die ihre Verbundenheit mit der reichhaltigen jüdischen Kultur eint.
„Wir wollen die Kontakte zu den in Esslingen lebenden Juden pflegen, Vorurteile abbauen und die Wiedervergegenwärtigung jüdischer Kultur in der Stadt befördern“, umreißt Wötzer die Ziele des Vereins. Im Fokus steht nicht nur der Umgang mit der Kultur des Judaismus in der heutigen Zeit, auch die Auseinandersetzung mit der facettenreichen Geschichte der Esslinger Juden nimmt breiten Raum ein.
Die Historie reicht weit zurück: In der ehemaligen freien Reichsstadt sind Juden bereits im Mittelalter sesshaft gewesen. „Erstmals wird eine jüdische Gemeinde um 1241 genannt. Damals schon hatte sie eine Synagoge“, sagt Georg Wötzer. Mitte des 14. Jahrhunderts wurden diese Familien während der Judenverfolgung in der Pestzeit vernichtet, doch schon kurz darauf siedelten sich in der Stadt erneut Juden an.
Deren wechselvolle Geschichte setzte sich fort: Um 1541 verließen die letzten Familien notgedrungen die Stadt. Der Esslinger Rat hatte sie damals ausgewiesen und so seine Bürger von den Schulden befreit, die sie bei Juden hatten. Erst 260 Jahre später gab es erneut jüdisches Leben in Esslingen.
Einflussreicher Kantor Mayer Levi
In der damals wohlhabenden Stadt wurden mehrere aus Wankheim bei Tübingen kommende Familien sesshaft. Die jüdische Gemeinde wuchs schnell und wurde zu einem wichtigen Teil der Esslinger Gesellschaft. Mit Spendengeldern erwarb man das ehemalige Zunfthaus der Schneider im Heppächer, und fortan war das mittelalterliche Gebäude für viele Jahre die Synagoge der jüdischen Gemeinde.
Bedeutende Personen wie der Verleger Leopold Harburger, der Handschuhfabrikant Moritz Feigenbaum oder der Gründer des Arbeiter-Bildungsvereins, August Hochberger, gehörten zu den Honoratioren der Stadt. „Besondere Bedeutung kommt dem Chasan Mayer Levi zu, der die liturgischen Gesänge und Melodien im Einklang mit den traditionellen Formen der süddeutschen Juden in einer Sammlung darstellte“, berichtet Georg Wötzer. Der einflussreiche Kantor Mayer Levi – er gründete seinerzeit einen Synagogenchor – war zudem Dozent am Esslinger Lehrerseminar, wo er ab dem Jahr 1844 jüdische Lehrkräfte ausbildete. „Mayer Levi war auch Dirigent des traditionsreichen Weingärtner-Liederkranzes Esslingen“, weiß Wötzer.
In jene Zeit fällt auch die Gründung eines Waisenhauses zur Versorgung bedürftiger israelitischer Kinder. Zunächst lag das Heim in der Entengrabenstraße. Da die Räumlichkeiten zu eng wurden, bezog man 1913 ein neu erbautes Anwesen in der Mülbergerstraße oberhalb der Burg. Den Neubau leitete der Pädagoge und Erzieher Theodor Rothschild, der nahezu 40 Jahre lang als Hausvater die Geschicke des Waisenhauses der Wilhelmspflege geleitet hat. Nach ihm ist das Haus benannt, in dem heute in der Trägerschaft der Stiftung Jugendhilfe unterschiedlichste Förderprogramme für Jugendliche und Familien in den Bereichen Bildung und Erziehung angeboten werden.
Renovierte Synagoge im Heppächer
Während des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte wurde das Waisenhaus von den Nationalsozialisten verwüstet, und die braunen Horden schändeten in der sogenannten Reichspogromnacht von 1938 auch die Synagoge im Heppächer. Für die Esslinger Juden war die bestialische Judenverfolgung ein gravierender Einschnitt: Viele wurden vertrieben, und ein Großteil der jüdischen Bevölkerung wurde von den Nazis ermordet. Von diesen erschütternden Ereignissen erholte sich die jüdische Bevölkerung Esslingens nur langsam. Erst seit den 1990er Jahren ist ein verstärkter Zuzug von Personen aus den GUS-Staaten zu verzeichnen. Heute zählt die jüdische Gemeinde um die 300 Mitglieder. Ihre Schabbat-Gottesdienste feiert sie in der renovierten Synagoge im Heppächer 3, die – nach verschiedenen Nutzungen – seit 2012 wieder als Bet- und Versammlungshaus dient.
Heute gibt es in Esslingen eine aktive und lebendige jüdische Gemeinschaft. „Wir möchten bestehende Ressentiments abbauen, Wissen über die jüdische Kultur weitergeben und interkonfessionelle Kontakte knüpfen“, sagt Georg Wötzer. „Nur mit gegenseitiger Toleranz ist ein gedeihliches Miteinander möglich.“
Der Verein Freunde jüdischer Kultur Esslingen
Ziele
In dem im Jahr 2005 gegründeten Verein pflegen Esslinger Bürgerinnen und Bürger verschiedenster Konfessionen den Umgang mit der Kultur des Judentums in Geschichte und Gegenwart. Man möchte Intoleranz, Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus entgegenwirken. Alle Aktivitäten will man im Geiste der gegenseitigen Wertschätzung zwischen Juden und Nichtjuden verwirklichen.
Vorsitzender
Georg Wötzer absolvierte an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart ein Schulmusik- und Kompositionsstudium. Nach Lehraufträgen an verschiedenen Hochschulen war er in den Jahren von 1993 bis 2011 hauptamtlicher Dozent für Musiktheorie, Computermusik und Instrumentenkunde an der Stuttgarter Musikhochschule. Der in Esslingen wohnende Wötzer komponiert überwiegend für kammermusikalische Besetzungen, teilweise unter Verwendung von Texten in Jiddisch sowie in Hebräisch.
Veranstaltungen
Im Rahmen eines vielfältigen Veranstaltungskanons referiert am 18. Juni Hartwig Wiedenbach im Theodor-Rothschild-Haus über „Beispiele jüdischer Bibelauslegung“. Am 9. Juli hält Matthias Morgenstern, Professor für Judaistik und Religionswissenschaften an der Universität Tübingen, einen Vortrag über „Johannes Reuchlin – von der jüdischen zur christlichen Kabbala“.
Weitere Infos
unter: www.freunde-juedischer-kultur-esslingen.de