Groß und mächtig: Blick auf die Nordwand des Eiger Foto: Mauritius

Vor 160 Jahren wurde der Eiger erstmals bestiegen. Der berüchtigten Nordwand kann man sich auch als normaler Bergsteiger auf einem Klettersteig nähern.

Stuttgart - Er zählt zu den bekanntesten Bergen in Europa: der Eiger. Am 11. August 1858, also vor 150 Jahren, gelang es wagemutigen Männern zum ersten Mal, den markanten, 3967 Meter hohen Gipfel zu besteigen. Seither ranken sich Geschichten und Mythen um den Berg, der den schweizerischen Ort Grindelwald bewacht. Vor allem in der Nordwand, die gerne auch als Mordwand bezeichnet wird, spielen sich immer wieder Dramen ab. Was aber selbst in Bergsteigerkreisen kaum jemand weiß: Es gibt einen relativ einfachen Klettersteig am Westzipfel des Berges. Nordwand-Feeling für jedermann. Man streift die berühmte Route, kann Schlüsselstellen erspähen und sich ein bisschen in die Lage der Kletterer versetzen, die mit der Mordwand kämpfen.

Der Eigerfels ist kalt, als die kleine Gruppe den Rotstock-Klettersteig angeht. Die Wand liegt selbst im Hochsommer bis zum späten Nachmittag im Schatten. Ein gewisses Maß an bergsteigerischen Fähigkeiten muss man mitbringen. Auch sollte man beim Blick gen Tal keine weichen Knie kriegen. Leute in Turnschuhen und Sandalen fahren besser mit der legendären Zahnradbahn durch den Eiger hindurch und hinauf auf das Jungfraujoch (3454 Meter).

Vor einigen Jahren wurde der Klettersteig restauriert und wiedereröffnet. Er ist nicht besonders schwierig, aber Bergsteiger benötigen eine Selbstsicherung. Sie tragen einen Gurt um Hüfte und Schenkel, mittels Karabinern hängen sie sich in Stahlseile ein, die entlang der Route verlaufen. So wird ein möglicher Sturz gebremst und größeres Unglück verhindert. Der Steig stammt noch aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts, war aber lange stillgelegt. Kletterer stoßen heute noch auf Relikte aus der Anfangszeit, wie abgebrochene Seilsicherungen und verrostete Leitern. Aber eine Reihe in den Fels gehauene Stufen hat ein Jahrhundert Schnee und Eis unbeschadet überstanden. Eine Zeit lang tummelte sich auf den wenigen kinderleichten Metern des Steigs die High Society von Grindelwald. Herren mit Zylindern und Frauen mit langen Röcken nutzten einen Ausstieg aus dem Tunnel, in dem die Zahnradbahn durch den Eiger verkehrt, um sich in der Nordwand zu gruseln.

Die ultimative Herausforderung

Sie wollten hautnah erleben, wie sich wagemutige Kletterer durch die mörderische Wand kämpften. Rückzug für die betuchte Gesellschaft jederzeit möglich. Für jene, die in der Nordwand hängen, gab und gibt es keinen Ausweg. Lange Zeit galt diese Seite des Eigers als das alpinistische Problem der Alpen schlechthin. Viele scheiterten, mancher Bergsteiger bezahlte mit seinem Leben. Erst 1938, 80 Jahre nach der Erstbesteigung, schaffte es eine Vierer-Seilschaft um Heinrich Harrer und Anderl Heckmair über diese Seite auf den Gipfel. Nach letzterem ist die Route seither benannt und für viele, selbst sehr gute Kletterer, ist sie heute noch die ultimative Herausforderung.

Bergführer Beat Hofer, der die Gruppe heute durch den Klettersteig auf den benachbarten Rotstock führt, hat die Heckmair-Route vor acht Jahren durchstiegen. Sein Bedarf nach einer Wiederholung ist nicht besonders groß. Noch heute müssen die meisten Kletterer eine Nacht in der Wand biwakieren. Das heißt, sie übernachten in einer Art Kunststoffsack, der vor Kälte, Regen und Schnee schützt. Natürlich wird der Biwaksack am Fels festgemacht, damit niemand im Schlaf Richtung Grindelwald purzelt. Aber die wenigsten machen wohl ein Auge zu. „Man wartet nur auf die Morgensonne, damit es endlich weitergeht“, erklärt Hofer.

Die Bedingungen für den Gipfelsturm müssen laut dem 43-Jährigen optimal sein. Ohne verlässliche Wettervorhersage, die ein längeres Hoch prognostiziert, solle kein Bergsteiger auch nur einen Schritt an der Wand unternehmen. Und selbst dann sei man nicht vor unliebsamen Überraschungen gefeit: „Es kann in ganz Europa blauer Himmel sein, aber über der Nordwand bricht ein heftiges Gewitter herein.“ Der zweite Faktor ist die Höhe der Wand. Nahezu 1700 Höhenmeter sind zu klettern, teilweise im zehnten Schwierigkeitsgrad, der in der alpinen Skala ganz oben angesiedelt ist.

Der Eiger bröckelt

Problem Nummer drei: Steinschlag kann jeden Wanderer in den Bergen treffen, aber der Eiger bröckelt geradezu vor sich hin. Regelmäßig gehen Lawinen ab, weil die Wand so steil ist. Zu viele Bergsteiger unterschätzen nach Meinung Hofers diese Risiken: „Die Leute haben ihren Urlaub in Grindelwald gebucht und wollen unbedingt die Wand machen. Die steigen dann auch bei zweifelhaftem Wetter ein“, sagt der Bergführer. Steil nach oben zeige die Unfallkurve in den vergangenen Jahren. „Und am Mönch und an der Jungfrau passieren mindestens genauso viele Unglücke.“

Die schlimmsten Dramen spielen sich allerdings am Eiger ab: Bei ihrem Besteigungsversuch in den 30er-Jahren erfrieren zwei Münchner bei einem Schneesturm. Gut 20 Jahre später wird ein Mitglied einer Vierer-Seilschaft aus der Wand gerettet. Als die Retter am nächsten Tag einen Weiteren bergen wollen, ist dieser bereits erfroren, die anderen abgestürzt. Besonders tragisch aber endete 1936 eine deutsch-österreichische Expedition: Drei Bergsteiger sind schon verunglückt, als Letzter seilt sich Toni Kurz ab. Nur wenige Meter über den Köpfen der Retter geht im die Kraft aus. Auch er stirbt. Dieses Drama wurde zur Vorlage für den Film „Nordwand“.

Dabei haben Regisseure das Grusel-Potenzial des Eigers schon vor Jahren entdeckt: Clint Eastwood kletterte einst „Im Auftrag des Drachen“ am Fels über Grindelwald.

Im letzten Drittel der Route geraten die Dramen kurz in Vergessenheit. Dann bekommt der Bergsteiger die Belohnung für seine Mühen. Die Sonne scheint mittlerweile auf die bunten Kletterhelme und vor der Gruppe breitet sich ein alpines Panorama aus, das es kein zweites Mal gibt, das von der Unesco sogar zum Weltkultur-Erbe erhoben wurde: Die Gletscherwelt zu Füßen der Jungfrau. Millionenfach funkeln die Schneekristalle herüber. Auch eine Gruppe besonders wagemutiger Alpinisten nutzt das Traumwetter. Von einer Felskanzel stürzen sich Base-Jumper die Nordwand herab.