In einem nicht zugänglichen Museum des IBM-Labors auf dem Rauhen Kapf in Böblingen schlummern Meilensteine der Computerentwicklung: Von der Hollerith-Maschine über die erste Festplatte bis zum Mikrochip. Doch wann und wie diese nach Ehningen umsiedeln, ist genauso ungewiss wie der gesamte Umzug.
Der Weg in die Vergangenheit führt vorbei an der Zukunft. Noch residiert die IBM mit ihrem Labor auf dem Rauhen Kapf in Böblingen, Schönaicher Straße 220. In diesen von Kiefern umsäumten Gebäudeblöcken forschen rund 1200 Mitarbeiter an den Großrechnern der Zukunft, die man längst Mainframes nennt. Modelle der aktuellen Generation stehen entlang eines weitläufigen Flurs hinter dem Foyer. Gläserne Gehäuse erlauben einen Blick in ein blau illuminiertes Innenleben. Die Großväter dieser Maschinen allerdings inszeniert der US-Konzern weit weniger bunt.
Sie stehen auf gut 400 abgeschirmten Quadratmetern im Erdgeschoss des Empfangsgebäudes, Raum 12-014. Hinter Milchglasscheiben und im Licht von Neonröhren haben sie hier Obdach gefunden, nachdem die IBM im Jahr 2012 ihr „Haus zur Geschichte der IBM-Datenverarbeitung“ in der ehemaligen Lochkartenfabrik in der Sindelfinger Bahnhofstraße aufgab. „Ungefähr 30 ehemalige IBM-Mitarbeiter und drei Aktive kümmern sich immer donnerstags um die alten Exponate“, sagt IBMer Klaus Rindtorff.
Ihr Anspruch ist es, „alle Maschinen am Laufen zu halten“. Das sei gar nicht so einfach, denn irgendwas sei immer kaputt. Ersatzteile gebe es kaum noch. „Am häufigsten brauchen wir Schraubenzieher und Draht“, sagt er. Viele der betagten Ungetüme stammen noch aus einer Zeit, in der man Computer tatsächlich noch mit normalem Werkzeug reparieren konnte beziehungsweise als diese noch gar nicht so hießen. Denn am Anfang war die Lochkarte.
Lochkarten halten sich Jahrzehnte
Dieser Datenträger aus Pappe spielt in dem Firmenmuseum in Böblingen eine wichtige Rolle und gilt als Keimzelle der massenhaften Datenverarbeitung. „Die Anfänge gehen zurück auf eine Volkszählung in den USA im Jahr 1890“, sagt Klaus Rindtorff. Damals setzte die US-Administration erstmals auf das von Herman Hollerith entwickelte System: Eine Maschine stanzt die eingegebenen Daten an bestimmte Stellen in die Karteikarten, die später per mechanischer Abtastung wieder ausgelesen und somit vor allem sehr schnell sortiert werden können. Die erste Rechenmaschinen-Revolution.
Im 19. Jahrhundert entwickelt, sollte sich die Lochkarte noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein halten. Als die IBM anno 1953 auf dem Rauhen Kapf in Böblingen Fuß fasste, kam gerade der IBM 650 auf den Markt: Der erste in Großserie hergestellte Computer. Der arbeitete mit Elektronenröhren und Trommelspeichern, 2000 Stück wurden produziert. Einer davon steht noch heute in Böblingen und Klaus Rindtorff bringt das graue Monstrum tatsächlich zum Laufen oder besser gesagt zum Rattern. Denn was es ausspuckt, sind noch keine Buchstaben oder Zahlen auf einem Bildschirm, sondern: Lochkarten.
An weiteren technologischen Sprüngen war das Böblinger Labor dann zum Teil maßgeblich beteiligt. Grundlage für die heutigen Mainframes etwa war das System/360, das einfach zu erweitern und mit mehreren Systemen kompatibel war. Böblinger Know-how steckt in der Entwicklung integrierter Halbleiter-Schaltkreise, ein wichtiger Schritt hin zu Betriebssystemen. Die Exponate sind um die Großrechner herum gruppiert, von der hartnäckigen Lochkarte geht es zu den ersten Magnetplattenspeichern, die wie Tortenträger anmuten. Revolutionär auch der IBM 305 Ramac, in dem erstmals ein beweglicher Schreib- und Lesekopf zwischen den vertikal gestapelten Speicherplatten auf und ab fuhr – der Vater der Hard Disk Drive, kurz: HDD. Der Streifzug durch die Computergeschichte führt weiter über den ersten Personal Computer 5150 von 1981, den Aptiva-Rechnern der späten Neunziger, Floppy Disks, Disketten und später die CD-ROM.
Böblinger entwickeln die Chipkarte mit
Was viele nicht wissen: An dem Chip, den viele EC- und Schlüsselkarten um die Jahrtausendwende herum erhielten, haben Böblinger IBM-Forscher einen großen Anteil. Doch wohin mit all diesen Meilensteinen, die ein wichtiges Kapitel der Böblinger und Sindelfinger Technikgeschichte bilden? Nachdem klar war, dass die Forscher ins neue Hauptquartier nach Ehningen ziehen sollen, war zunächst nicht sicher, was mit den Exponaten passieren soll.
Schließlich will „Big Blue“, wie die IBM oft genannt wird, vor allem in die Zukunft blicken: Quantencomputing und Künstliche Intelligenz stehen in Ehningen im Fokus, nicht die Uralt-Technik des 20. oder gar 19. Jahrhunderts. Wenn ein Technikmuseum Interesse an Exponaten zeige, sei man gewillt, sie dorthin zu geben. Doch IBM-Pressesprecher Michael Kiess lässt durchblicken, dass einige der Computer-Opas mit nach Ehningen ziehen dürfen. Dort werden sie aber wohl nicht in einen unzugänglichen Alterssitz verbannt wie jetzt in Böblingen, sondern sollen prominent platziert werden. Die Vergangenheit darf zur Zukunft gehören. „Wir wollen die wichtigsten Meilensteine erhalten“, sagt David Faller, Chef des IBM-Labors.
Wann es so weit ist, steht allerdings ebenso wenig fest, wie der Zeitplan des gesamten Umzugs des Labors von Böblingen nach Ehningen. Eigentlich sollte das Labor samt Verwaltung längst im neuen Technology Campus sitzen. Doch durch die Insolvenz des Bauträgers Development Partner im September 2023 steht die Baustelle still, obschon kurz vor Fertigstellung. Kurzerhand entschied man im Herbst, die Böblinger in eine bisher leer stehende Fläche im Ehninger Bestandsgebäude umzusiedeln zum Ende des ersten Quartals 2024. Ob und wie dies möglich ist, ist nun abermals unsicher.
Sanktionen gegen Vermieter der IBM
Der Grund: Im Dezember belegte das US-Finanzministerium den Eigentümer der Ehninger IBM-Gebäude mit Sanktionen. Der Investor hinter der Herrenberger Ozean Group, der Afghane Abdul Rahmani, soll im großen Stil Treibstoff von US-Truppen in Afghanistan abgezweigt und Nato-Truppen um hunderte Millionen Dollar geprellt haben. Laut Sanktionen dürfen US-Bürger und -Organisationen keine Geschäfte mehr mit ihm tätigen. Inwieweit dies auf das Mietverhältnis der IBM in Ehningen mit seiner Ozean Group Auswirkungen hat, das prüfen derzeit die Juristen der IBM. Der Ausgang ist noch offen.