Ein Mitglied der Gruppe S. vor dem Urteil Foto: dpa/Bernd Weißbrod

Im Prozess gegen die mutmaßliche Rechtsterrorgruppe S. sprechen die Richter den Spitzel frei, zehn Mitangeklagte erhalten Haftstrafen.

Zu Haftstrafen zwischen einem Jahr und neun Monaten sowie sechs Jahren verhängten Richterinnen und Richter des Stuttgarter Oberlandesgerichts gegen zehn Männer, die der mutmaßlichen Rechtsterrorgruppe S. zugeordnet werden. In einem Fall wurde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Der 5. Strafsenat sieht es als erwiesen an, dass die Terrorgruppe sich im Februar 2020 im westfälischen Minden traf, um eine terroristische Vereinigung mit dem Ziel zu gründen, sich zu bewaffnen, Anschläge auf Moscheen zu verüben, dadurch einen Bürgerkrieg auszulösen und das politische System zu stürzen.

Für Verfahrensbeteiligte wie Prozessbeobachter überraschend sprachen die Richter den Spitzel des Landeskriminalamtes, Paul-Ludwig U., frei. Gleichwohl stellten die Richter aber auch fest, dass U. sich möglicherweise deshalb der Polizei andiente, um sich vor der Strafverfolgung wegen eigener, strafbewehrter Kurznachrichten zu schützen. Die Ermittler des LKA jedoch hätten ihn stets belehrt, dass er in dem Verfahren selbst beschuldigt werde. Sie hätten ihm keine Aufträge erteilt, die Gruppe zu unterwandern. Diese Darstellung stieß bei Verteidigern und Mitangeklagten erkennbar auf Unverständnis: In mitgeschnittenen Telefonaten, die während des Prozesses gehört wurden, hatten U. und die Ermittler gerade bei und über diese Belehrungen gefeixt und gelacht.

Spitzel brachte Ermittlungen erst in Gang

Die Richter führten zudem konkret aus, wie Paul-Ludwig U. die Anschlagspläne der Gruppe befeuerte, danach trachtete, sich mit einer Maschinenpistole und Handgranaten zu bewaffnen sowie sich an Attentaten zu beteiligen.

Dem LKA hatte sich Paul-Ludwig U. als Spitzel angedient, wodurch die Ermittlungen im Spätsommer 2019 überhaupt erst in Gang gesetzt wurden. Zuvor hatte U. wortgleich aber mit anderen Beteiligten der Polizei in Bayern vorgelogen, er sei Mitglied einer Gruppe, die Anschläge auf Moscheen, einen Bürgerkrieg und den Sturz des politischen Systems in Deutschland plane. Bayerns Kriminale hatten damals ihre Ermittlungen eingestellt. Von seiner Arbeit für das LKA erhoffte sich U. nach 21 Jahren Haft und Maßregelvollzug in psychiatrischen Einrichtungen einen Neustart im Leben im Zeugenschutz. Er hatte erst einen Polizisten, später zwei Pflegekräfte in einer psychiatrischen Klinik als Geiseln genommen.

Der Wunsch, ein Held zu sein

Das LKA bezeichnete U. während der Ermittlungen als „Kronbeschuldigten“, einem Mix der Worte „Kronzeuge“ und „Beschuldigter“. Eine Stellung, die die Strafprozessordnung weder vorsieht noch überhaupt kennt. Der Generalbundesanwalt hatte drei Jahre Haft für U. gefordert.

Die Richter sprachen U. deshalb frei, weil er mit seinen Aussagen am Tag nach dem Gründungstreffen der Gruppe in Minden „im Ergebnis ein Fortbestehen der Vereinigung verhinderte“. Dies ist im Paragrafen 129, Absatz 7 des Strafgesetzbuches so vorgesehen. Auch wenn er dies nicht „aus hehren Motiven“ tat, stehe der Anwendung der Vorschrift nichts entgegen. Der Senat kam zu dem Schluss, dass U.s Geltungsbedürfnis ihn letztendlich als „Auslöser einer bundesweiten Festnahmeaktion“ habe dastehen lassen wollen. Ein Heilbronner Ermittler hatte gesagt, bereits im April 2019 sei U. von der Vorstellung fasziniert gewesen, „Held zu sein“.

Richter kritisiert Verteidiger

Der Vorsitzende Richter Herbert Anderer führte zudem im Detail aus, dass die in diesem Sommer bekannt gewordenen 15 Terabyte Beweismaterial des Landeskriminalamtes nicht überraschend aufgetaucht seien. Vielmehr seien Hinweise drauf immer in den allen Prozessbeteiligten zur Verfügung stehenden Gerichtsakten vorhanden gewesen. Den Verteidigern warf er vor, diese Akten nur mangelhaft zu kennen: „Für den fleißigen Aktenleser geschieht in der Hauptverhandlung wenig Überraschendes“, sagte Anderer. Den Anwälten habe es jederzeit freigestanden, diese Daten über einen Antrag beizuziehen. Dies aber sei nicht geschehen. „Hat es Sie 27 Monate lang nicht interessiert? Haben Sie 27 Monate lang nicht verteidigt?“ Er lasse den Satz, die 15 Terabyte Daten seien überraschend aufgetaucht, nur dann gelten, wenn er ergänzt werde durch den Zusatz, „weil ich nicht verteidigt habe, weil ich nicht aufgepasst habe“.

Bereits vor dem nicht rechtskräftigen Urteil hatten mehrere Verteidiger angekündigt, in Revision zu gehen und das Urteil durch den Bundesgerichtshof und auch den Europäischen Gerichtshof prüfen zu lassen.