Die Dominanz von Tadej Pogacar beim Giro d’Italia müsste eigentlich zu Skepsis führen, nicht zu immer neuen Superlativen, meint unser Autor Jochen Klingovsky.
Geraint Thomas (38) hat viel gesehen im Profiradsport. Der Waliser gewann nicht nur selbst die Tour de France (2018), auch seine Teamkollegen Bradley Wiggins (2012), Chris Froome (2013, 2015-2017) und Egan Bernal (2019) triumphierten bei der Frankreich-Rundfahrt. Thomas, Rufname „G“, weiß folglich, wovon er spricht. Gerade hat er den Giro d’Italia als Dritter beendet, fast zehneinhalb Minuten hinter Sieger Tadej Pogacar. Das ist eine halbe Ewigkeit, weshalb Thomas über den Mann in Rosa und dessen UAE-Team sagte: „Dort sind alle normal. Bis auf Pogacar!“
Nicht normal – ist das die Kategorie Rennfahrer, in die der Slowene gehört? Oder wäre nicht unglaublich die besser passende Einordnung? Oder gar unglaubwürdig?
Fakt ist: Pogacar gewann diesen Giro mit frappierender Leichtigkeit. Er holte sechs Etappensiege, düpierte seine Gegner ein ums andere Mal, fuhr nebenbei einem Kollegen den Sprint an und klatschte am Schlussanstieg der letzten Etappe mit einem Kind am Straßenrand ab. Mit seinem Charme und sympathischen Auftreten ist er ein perfekter Botschafter des Radsports. Einerseits. Doch gab es, andererseits, in den vergangenen 50 Jahren jemals einen Radprofi, der eine Grand Tour dermaßen dominant und spielerisch gewonnen hat und später nicht des Dopings überführt wurde?
Für Pogacar spricht, dass er nie positiv getestet wurde, es nie konkrete Vorwürfe gab, er sich stets gegen Doping positioniert. Gegen ihn spricht die verseuchte Geschichte des Radsports (und vieler anderer Sportarten), sein Umfeld (die UAE-Bosse Mauro Gianetti und Matxin Fernandez leiteten das Team Saunier-Duval, das 2008 nach mehreren Dopingfällen die Tour verlassen musste), die hohe Zahl überführter slowenischer Radprofis. Ein Beweis? Ist das nicht. Doch es reicht, um die Leistungen von Pogacar kritisch zu hinterfragen und mit Skepsis zu betrachten. Und ihn nicht zu sehr hochzujubeln, ihm nicht jeden Superlativ anzuhängen.
„Pogacar ist der beeindruckendste Radfahrer, den ich je gesehen habe“, sagte Matxin Fernandez nach dem Giro-Triumph seines Schützlings, „und er ist der beeindruckendste, den ich jemals sehen werde.“ Wirklich? Im Radsport haben solche Einschätzungen nur selten eine lange Gültigkeit.