Psychische Erkrankungen wie Burn-Out sind auf dem Vormarsch Foto: dpa

Binnen 14 Tagen will die AOK ihren Versicherten im Bedarfsfall einen Therapieplatz anbieten.

Stuttgart - Psychische Erkrankungen sind auf dem Vormarsch. Neben Bayern und Hessen verzeichnet Baden-Württemberg die höchsten Zuwachsraten bundesweit. „Inzwischen steht hinter jeder zehnten Diagnose beim Hausarzt ein entsprechender Befund“, weiß Christopher Hermann, Chef der AOK Baden-Württemberg.

Weil das Versorgungssystem steigenden Patientenzahlen nicht gewachsen ist, gibt es lange Wartezeiten. Im Südwesten dauert es im Durchschnitt drei Monate bis zu einem psychotherapeutischen Erstgespräch, erst nach fünf Monaten gibt es einen ambulanten Therapieplatz – allerdings nur für zwei von drei Patienten. Jeder Dritte geht nach den ersten Diagnosesitzungen leer aus.

„Die Unter- und Fehlversorgung ist eklatant, einmal mehr zeigt sich die organisierte Verantwortungslosigkeit, die im deutschen Gesundheitswesen herrscht“, kritisiert Hermann. Gemeinsam mit der Betriebskrankenkasse Bosch, dem Ärztenetz Medi und psychotherapeutischen Verbänden will seine Kasse nun Abhilfe schaffen.

Vom neuen Versorgungskonzept, das die Vertragspartner am Mittwoch in Stuttgart vorstellten, profitieren in erster Linie die Patienten: Statt monatelang auf einen Therapieplatz warten zu müssen, sollen sie nach spätestens zwei Wochen in Behandlung kommen, in akuten Notfällen sogar schon nach drei Tagen.

AOK-Chef Hermann spricht von einem „Quantensprung“. Bereits seit Anfang Juli steht das Angebot 1,1 Millionen Versicherten offen, die sich in das Haus- und Facharztprogramm der Südwest-AOK eingeschrieben haben. Versicherte der Bosch BKK erhalten ab Oktober Zugang.

Für die Therapeuten lohnt sich die Zusammenarbeit

Bisher haben 400 der insgesamt 1600 ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten in Baden-Württemberg ihre Teilnahme erklärt. „Patienten, die dringend Hilfe benötigen, werden sofort von uns aufgenommen“, verspricht Alessandro Cavicchioli. Er ist Landeschef der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung, die neben der Freien Liste der Psychotherapeuten mit im AOK-Boot ist. Schnelle Hilfen seien wichtig, um eine Chronifizierung der Beschwerden zu verhindern – und damit hohe Folgekosten etwa durch eine lange Arbeitsunfähigkeit.

Finanziell lohnt sich die Zusammenarbeit für die Therapeuten, die obendrein versprechen, streng nach anerkannten wissenschaftlichen Leitlinien zu behandeln und flexiblere Sprechstundenzeiten anzubieten. In der Regelversorgung erhalten sie 756 Euro für die ersten zehn Stunden Psychotherapie von der AOK, in diesem Fall über den Umweg der Kassenärztlichen Vereinigung. Rechnen sie dagegen per Direktvertrag mit der AOK ab, sind es 1050 Euro.

Doch der Vertrag bringt den Behandlern, weitere Vorteile. Sie dürfen sich gegenseitig vertreten, und neue Therapeuten können ohne große bürokratische Hürden eingestellt werden. Vor allem aber verzichtet die Kasse auf zeitaufwendige Gutachten (Ausnahme: Psychoanalyse), ohne die sie bisher Therapien nicht bewilligen darf.

„Ich habe in 25 Jahren Tausende Gutachten geschrieben, hochgerechnet hat mich das vier Jahre Arbeitszeit gekostet. Und in all den Jahren wurden nur zwei Therapien abgelehnt“, sagte Rolf Wachendorf, Chef der Freien Liste. Wenn er nun keine Gutachten mehr schreiben müsse, könne er in der gewonnenen Zeit mehr therapieren.

Das Ziel, mehr Patienten schneller zu helfen, wollen die Vertragspartner auch dadurch erreichen, dass sie verstärkt auf Gruppentherapien setzen. Isolierte Frauen und Männer, die etwa unter einer Depression leiden, könnten in Gruppen soziale Lontakte knüpfen und so gestärkt werden, erklärt Cavicchioli. Es solle aber nicht der Eindruck entstehen, dass Patienten erst mal in Gruppen „geparkt“ würden, bevor es einen freien Einzeltherapieplatz für sie gebe.