Die Urlaubsenthemmung wird zur Uniformität: Liegestühle an der italienischen Küste. Foto: IMAGO/Zoonar/IMAGO/Zoonar.com/monticello

Die schönste Zeit im Jahr hat ihre Unschuld verloren. Der klassische Sommerurlaub im Süden ist nicht nur wegen der ökologischen Katastrophen am Mittelmeer ein Auslaufmodell. Doch es gibt Hoffnung.

Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass der große Urlaub die schönste Zeit des Jahres sei. Doch mittlerweile sind berechtigte Zweifel angebracht, ob denn so ein gemeiner Sommerurlaub all das bietet, was das Herz eines von der Erwerbsarbeit ausgelaugten Mitteleuropäers anscheinend begehrt: Erholung, Ruhe, Lektüre, Sonne, Wasser, Wind. Mehr Zeit mit der Familie. Oder gar ein Abenteuer. Mit anderen Worten: Spaghetti. Es gab Zeiten, da galt ein Teller voller italienischer Pasta als wahre touristische Herausforderung.

 

Mit dem Käfer über die Alpen

In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts ächzten zigtausende VW Käfer mit deutschen Familien über den Brenner auf der Suche nach etwas, was die Italiener Dolce Vita nennen. Man war vergnügungssüchtig, wollte den Krieg, die Kollektivschuld und den Anblick der Trümmerlandschaften für ein paar Tage verdrängen und vergessen.

Die meisten schafften es bis zum Lago Maggiore oder an den Gardasee, das eigentliche Ziel waren aber die Sandstrände an der Adria. Mit Caterina Valentes Schlagerzeile im Ohr „Komm ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans blaue Meer. Und wir tun, als ob das Leben eine schöne Reise wär“ arbeitete man sich alsbald am Strand von Rimini bis zur ersten Liegereihe vor.

Spaghetti mit Messer oder Löffel?

Und abends saß man dann vor einem Teller Spaghetti und fragte sich, wie die Einheimischen mit dieser komplizierten Nudelei zurechtkamen. Der Bildungsbürger aus Castrop-Rauxel und Bad Oldesloe wusste auch nicht, wie diesen kulinarischen Ungeheuern ohne Schneidewerkzeug beizukommen war, schaute aber lieber in seinen Baedeker aus dem Jahr 1955, wo ein Warnhinweis zum Thema stand: „Bitte, legen Sie das Messer weg! Wir wollen nicht auffallen.“

Die für ihre Gastfreundlichkeit berühmten Italiener legen seitdem einen Löffel bereit, wenn sie ihre Gäste aus dem Norden bewirten. Es ist fraglos ein Freundschaftsbeweis.

Diese Anekdoten erscheinen heute putzig, denn mittlerweile gehören Pizza und Pasta zu den Standardgerichten in deutschen Haushalten. Und die Espresso-Maschine für vierstellige Eurobeträge schenken sich geschmackvolle Paare und Hobby-Baristas aus der Mittelschicht zu Weihnachten.

Die meisten kennen sich ohnehin in den Uffizien von Florenz, bei den toskanischen Weingütern oder Rom besser aus als in ihren heimatlichen Gefilden, was auch am Überfluss an Informationen in den sozialen Medien liegt. Wer in „Bella Italia“ noch das Unbekannte oder Skurrile finden will, muss lange suchen, am einfachsten ist es, die alte Dia-Sammlung der Großeltern zu durchforsten.

Das Leben als Reise

„Und wir tun, als ob das Leben eine Reise wär“ . . . die Schlagerzeile klingt immer noch verheißungsvoll, doch was der Wirtschaftswunder-Generation offensichtlich so einfach gelang, erscheint in unserer Zeit nahezu aussichtslos. Sich für zwei, drei Wochen im Sommer in eine andere, bessere Welt zu verabschieden und womöglich Aufregendes oder Prägendes zu erleben, gelingt nur noch den wenigsten.

Trotzdem versuchen es Millionen jedes Jahr aufs Neue. Die Menschen in Deutschland reisen nach wie vor gern, sie reisen viel und sie reisen am liebsten mit dem Auto. In Corona-Zeiten hatte der Trend noch zugenommen: Fast 51 Prozent fuhren mit dem Auto in den Urlaub. Knapp die Hälfte fliegt in die Ferien.

Vergleichsweise wenige nutzen die Bahn oder nehmen den Bus. Und wie einst sind sommers die Strände an der Adria und am Mittelmeer das Ziel von Millionen, wobei die meisten Italien und Spanien ansteuern.

Doch nichts am Urlaub ist mehr selbstverständlich. 28,3 Urlaubstage hat ein Arbeitnehmer in Deutschland pro Jahr im Durchschnitt zur Verfügung, was im internationalen Vergleich für einen Spitzenplatz reicht. Laut einer Umfrage des Online-Reiseportals Expedia werden aber nur 18,3 Tage davon auch tatsächlich als Urlaub und zum Entspannen genutzt.

Von den restlichen zehn Tagen gehen im Schnitt 5,6 Tage – also rund 20 Prozent des durchschnittlichen Jahresurlaubs – für Termine, Pflichten und Projekte wie die Pflege von Angehörigen, Arztbesuche oder den Hausbau drauf. Viele Eltern nehmen regelmäßig spontan Urlaubstage, um ihre erkrankten Kinder von der Kita abzuholen und zu betreuen.

Stressfaktor Arbeitskräftemangel

Mehr als jeder zweite der Befragten gab zudem an, dass die Urlaubsplanung vor allem aufgrund des aktuellen Arbeitskräftemangels im Beruf zunehmend zu einer Herausforderung wird. 20 Prozent empfanden ihren Arbeitsplatz personell als unterbesetzt, 26 Prozent sprachen von einem Arbeitskräftemangel in ihrer Branche.

Vor dem Urlaub kommt daher für viele ein anderer Stress: Etwas mehr als die Hälfte der Befragten (57 Prozent) sieht sich dem Recherche- und Planungsaufwand, den eine Reisebuchung erfordert, nicht gewachsen. 56 Prozent fühlen sich durch den Zwang, ein gutes Angebot zu finden, zusätzlich unter Druck gesetzt.

Kein Wunder also, dass sich so viele nach einer Vier-Tage-Woche bei gleichbleibendem Gehalt sehnen. Den Wunsch nach weniger Arbeit hegen vier von fünf Angestellte in dieser gestressten Republik, das ergab eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung.

Wer keine Möglichkeiten zu einer Arbeitszeitverkürzung hat und jahrein, jahraus einen Flug in den vermeintlich erholsamen Süden bucht, den plagt zunehmend das schlechte Gewissen. Lange Reisen in Zeiten des Klimawandels sind meist energieintensiv, also umweltschädlich.

Als Tourist mit Haltung stellt man sich womöglich Fragen, auf die es keine befriedigende Antwort gibt: Wie kann der Flug kompensiert werden? Habe ich bei meiner Wahl der Hotels darauf geachtet, dass es sozial und ökologisch zertifizierte Häuser sind? Wird in den Duschen Wasser gespart? Wird das Zimmermädchen fair bezahlt? Sollte man lieber auf den Mietwagen verzichten?

Und wenn man, was selten genug vorkommt, alles richtig gemacht hat und mit dem grün leuchtenden Heiligenschein an einem Naturstrand auf Rhodos sein Strandtuch ausgebreitet hat, merkt man eventuell, dass die Hitze kaum auszuhalten ist und schon eine Massenevakuierung der Urlauber im Gange ist.

Strandtourismus am Mittelmeer droht im Hochsommer zum Auslaufmodell zu werden, warnt Harald Zeiss, Direktor am Institut für Tourismusforschung der Hochschule Harz in Wernigerode. „Die Zukunft des Sommerurlaubs am Mittelmeer steht angesichts erneuter Hitzewellen infrage“, sagte Zeiss der Zeitung „Die Welt“. „Die steigenden Temperaturen werden den Tourismus und die Reisegewohnheiten mittelfristig beeinflussen.“

Mit dem Fahrrad zum Badesee

Gut möglich, dass Urlaub nicht nur im Hochsommer ein Auslaufmodell ist. Der individuelle Stress, die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie, der Klimawandel sowie eine Welt, die dank dem Internet keine Geheimnisse mehr offeriert, sorgen bei vielen für ein Umdenken.

Wie wäre es, wenn man einfach bliebe, wo man wohnt und lebt und höchstens mit dem Fahrrad zum nächsten Badesee führe? Sonne satt und zu viel Hitze kennt man mittlerweile sogar in den deutschen Mittelgebirgen, dafür muss man nicht mehr nach Mallorca düsen.

Der Wert des Reisens

Das Problem: Gerade die Deutschen verbinden mit dem Reisen mehr als nur eine schöne Zeit. Nicht nur in Deutschland, aber vor allem hierzulande ist Freiheit untrennbar mit Bewegungsfreiheit verknüpft. Wer bleiben muss, ist unfrei, wer reist, fühlt sich: frei.

Der deutsche Reisepass gehört nach dem Henley Passport Index zu den wertvollsten der Welt. Warum? Deutsche können, wie die Spanier und Italiener übrigens auch, derzeit in 190 Staaten einreisen, ohne vorher ein Visum beantragen zu müssen. Nur Bürger aus Singapur können mit 192 noch mehr Länder visumfrei bereisen.

Die neue Bleibefreiheit

Darauf kann man sich zurecht viel einbilden. Immerhin kann das verwehrte Menschenrecht auf Freizügigkeit Revolutionen auslösen, was man nicht zuletzt am Zusammenbruch des undemokratischen Staatssozialismus am Ende des 20. Jahrhunderts beobachten konnte.

Trotzdem kann der permanente Ortswechsel nicht die ultimative Antwort auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu sein. Die Philosophin Eva von Redecker denkt Freiheit darum ganz neu: als die Freiheit, an einem Ort zu leben, an dem wir bleiben könnten. Statt von Reisefreiheit spricht sie von: Bleibefreiheit. „Unser gängiger Freiheitsbegriff ist untauglich für das Anthropozän.

Er reagiert empfindlich darauf, wenn die Mobilität in benzinverbrennenden Blechkisten angekratzt wird. Aber von der Frage, ob es in Zukunft noch Vögel gibt, bleibt er völlig unberührt“, schreibt Eva von Redecker in ihrem lesenswerten Essay „Bleibefreiheit“. „Wo Landstriche durch Krieg und Naturkatastrophen unbewohnbar werden, ist die Reiseerlaubnis ein Notbehelf, eher ein Migrationszwang als eine Freiheit.“

Die Philosophin plädiert für eine Abkehr vom gängigen räumlichen Verständnis von Freiheit: „Es könnte heißen, Freiheit selbst anhand der verfügbaren, lebbaren Zeit zu bemessen. Nicht: Wie viel Raum darf ich nehmen? Sondern: Wie viel Zeit ist mir vergönnt? Jetzt, nachher, auf lange Sicht?

Von Freiheit über die Zeit hinweg käme man auf Freiheit an Zeit. Der Begriff der Bleibefreiheit kann diese Facetten bündeln. Gönnen wir den zukünftig Lebenden diese Freiheit?“

Sehnsucht nach erfüllter Zeit

Angesichts der ökologischen Katastrophen wäre eine verzeitlichte Freiheitsauffassung hilfreich. Was für ein Glück, wenn man – anders als Millionen Flüchtende – bleiben darf, wo man ist. Während die Eltern und Großeltern in ihrem Urlaub noch Trost, Spaß und Erholung vom Alltag fanden, müssen ihre Enkel feststellen: Der klassische Urlaub im Süden taugt nicht mehr als Sehnsuchtsziel. Was viele sich wünschen, das ist nicht die Ferne, die Entfernung vom eigenen Zuhause, sondern mehr Zeit. Erfüllte Zeit.