Im wahnhaften Denken Breiviks sind Parallelen zum schwäbischen Massenmörder Wagner zu erkennen.

Oslo/Stuttgart - Für Außenstehende ist der Fall klar: Anders Behring Breivik ist ein Mörder, der für seine Taten verantwortlich ist und bestraft werden muss. Doch für die Osloer Richter ist die Causa Breivik weitaus schwieriger. Sie müssen klären, ob der 33-Jährige schuldfähig oder unzurechnungsfähig ist. Bei einem Schuldspruch drohen Breivik bis zu 21 Jahre Haft. Die Alternative wäre eine lebenslange Unterbringung in der Psychiatrie. Für beide Varianten liegen Gutachten vor.

Doch wer ist dieser Mann, der kaltblütig und berechnend 77 Menschen tötete? Der Kriminalpsychiater und Gerichtssachverständige Reinhard Haller, Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene im österreichischen Vorarlberg, ist davon überzeugt, dass Breivik zum Tatzeitpunkt genau wusste, was er tat. Allerdings handelte er in einem „Zustand der wahnhaften Wehrlosigkeit“. Breivik hat demnach eine für „Bombenterroristen“ typische Psyche: einen „bösartigen Narzissmus“. Dieser sei gekennzeichnet durch extreme Gemütsarmut, ein völlig fehlendes Einfühlungsvermögen, starke Machtansprüche und ein paranoides, wahnhaftes Denken.

Haller, der den Briefbomber Franz Fuchs, den Sexualmörder Jack Unterweger und den Triebtäter Josef Fritzl psychiatrisch begutachtete, beschreibt gegenüber unserer Zeitung dezidiert den kriminellen Typus Breiviks. Der wahnhaften Welt, in der er lebt, ist er demzufolge völlig ausgeliefert. Sein ganzes Leben widmet er einer wirren politischen Idee: Er muss Norwegen vor der voranschreitenden Islamisierung schützen, weil die Politiker komplett versagen. Von der Gesellschaft enttäuscht, die sein „wahres Genie“ verkennt, zieht sich der „sehr intelligente und mit hohem technischem Verstand“ ausgestattete Mann verbittert zurück.

Das Massaker des schwäbischen Hauptlehrers Wagner

Breivik hat niemanden, der ihn relativiert und in die Wirklichkeit zurückholt. Er wird zunehmend abgehoben, versteigt sich immer mehr in seine gefährlichen Ideen, wird extrem fanatisch und irgendwann wahnhaft.

Nach Angaben Hallers existieren weltweit nur fünf Fälle, die vergleichbar sind – einer davon ist der des schwäbischen Hauptlehrers Ernst August Wagner, der 1913 ein Massaker anrichtete, das Europa erschütterte. Wie Wagner hat auch Breivik jahrelang seine Bluttat vorbereitet – stets im vollen Bewusstsein um die Folgen seines Tuns. Im Gerichtssaal brüstet er sich in einer endlosen Hasstirade damit, den raffiniertesten und spektakulärsten politischen Angriff in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg unternommen zu haben. Und er würde seine Anschläge wiederholen.

Was diese Handvoll Täter nach Ansicht Hallers verbindet, ist die Tatsache, dass sie wahnhaft in einer eigenen Welt leben, aber ansonsten psychisch nicht verwirrt oder halluzinierend sind wie Schizophrene. „Beim Wahn ist das Gefährliche, das man sonst normal funktioniert. Ein psychisch Kranker ist verwirrt und unkonzentriert, der Wahnkranke nicht.“

„Höchst sadistische Persönlichkeit“

„Höchst sadistische Persönlichkeit“

Breivik handelt strategisch und legt eine Bombe, die anonym tötet, um von seinen eigentlichen Plänen abzulenken. Ungestört von der Polizei kann er auf der Insel Utøya ein Massaker anrichten, mordet gefühllos von Angesicht zu Angesicht. Der Psychiater attestiert ihm eine „höchst sadistische Persönlichkeit“. Täter wie Breivik, der Oklahoma-Attentäter Timothy McVeigh oder der Una-Bomber Ted Kazynski entwickelten über Jahre ein „Sendungsbewusstsein, gepaart mit einer absoluten Reflexionsschwäche“. Genau wie der „Mörder von Mühlhausen“.

Am 3. und 4. September 1913 meuchelte Wagner 14 Menschen. Erst erschlug und erstach er seine Frau und die vier Kinder in seinem Haus in Degerloch. Danach fuhr er mit dem Fahrad nach Stuttgart, von dort mit der Bahn nach Mühlhausen bei Vaihingen. Hier zündete er vier Häuser an und schoss auf die Fliehenden wahllos mit seinen Pistolen. Wie Breivik war Wagner von skrupelloser Brutalität und zeigte nach der Tat keinerlei Reue. Seine Wahnwelt mit dem paranoiden Hass auf Frauen und den Minderwertigkeitsgefühlen erinnert stark an das pathologische Weltbild des Norwegers.

Wie Breivik, der ein 1500 Seiten dickes „Manifest“ verfasst hat, versuchte sich auch Wagner als Literat. 1909 begann er eine Biografie zu schreiben, die er nach seiner Verurteilung 1914 fortführte. „Ich habe ein scharfes Auge für alles Kranke und Schwache, bestellt mich zum Exekutor, und kein Kommabazillus soll durchschlüpfen“, schrieb er. Auch wenn sich die Verbrechen in ihren Einzelheiten unterscheiden, sind die Strukturen des Hasses doch identisch: der krankhafte Wunsch nach Akzeptanz, die akribische Vorbereitung, das reuelose Sendungsbewusstsein, das wahnhafte Selbstverständnis, der fortschreitende Realitätsverlust. Der „Tagesspiegel“ nennt Wagner den „Breivik des Vor-Internetzeitalters“.

Schuldunfähig oder nicht?

Der Prozess gegen Wagner war der erste in der württembergischen Rechtsgeschichte, der wegen Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten eingestellt wurde. 1914 wurde der 40-Jährige in die Heilanstalt Winnenthal bei Winnenden eingeliefert, wo er im Jahre 1938 an Tuberkulose starb.

Ob auch Breivik als paranoid und schuldunfähig eingestuft wird, hat das Osloer Gericht zu klären. Der Wahn, der ihn leitet, hat jedenfalls seine kognitiven Fähigkeiten nicht beeinträchtigt. Ein Schizophrener oder Psychotiker wäre dazu nicht in der Lage gewesen, erklärt Haller. „Sein Gehirn ist vollkommen intakt, nur hat er eine andere Wirklichkeit. Und das befähigt ihn dazu, dass er solche Taten von langer Hand plant und durchführt – wie damals Ernst August Wagner.“