Kurt Kindermann aus Leonberg ist bei der Polizei ein Meister der Gesichtserkennung und hat seine Technik Kollegen rund um den Globus vermittelt.
Es ist der 5. November 2011. Kurt Kindermann will gerade sein Motorrad winterfest machen, da erreicht ihn ein Anruf der Polizei. Der Experte für Phantombilder wird bei den Ermittlungen zu einem Gewaltverbrechen gebraucht. In Eisenach haben sich am Vortag die berüchtigten Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in einem Wohnmobil erschossen. Kindermann soll zum Vermieter des Wohnmobils in Zwickau. Er wird per Hubschrauber abgeholt.
Der Aufwand kommt nicht von ungefähr. Kurt Kindermann ist eine der Koryphäen der Gesichtserkennung und Experte im Erstellen von Phantombildern. Er soll die Ermittler im Osten mit seinen Kenntnissen unterstützen. „Erst hat es geheißen, ich bin abends wieder daheim“, erinnert sich der einstige Profiler heute an den plötzlichen Anti-Terroreinsatz. „Doch dann hat es eine ganze Woche gedauert.“
Aufgewachsen in den USA
Kindermann, deutscher und amerikanischer Staatsbürger, wohnhaft in Stuttgart, im US-Bundesstaat Connecticut, in Wildberg im Schwarzwald und seit sieben Jahren in Leonberg, ist ein Mann von Welt im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht nur, weil er im Nordosten der USA aufgewachsen ist, sondern weil ihn sein Beruf in die unterschiedlichsten Länder geführt hat. Alles wegen seiner Gabe, Phantombilder perfekt zeichnen zu können und auch deren digitale Weiterentwicklung voranzutreiben. Das hilft nicht nur europäischen Fahndern, sondern etwa auch der Polizei in Mexiko, wo es 36 000 nicht identifizierte Leichen gibt.
Das Leben des Kurt Kindermann begann jenseits des großen Teiches. Seine Familie war 1952 nach Amerika ausgewandert. Er kam in Connecticut auf die Welt. „Mein Vater war Pessimist“, erinnert sich Kindermann. „Der hatte geglaubt, dass aus dem zerstörten Nachkriegsdeutschland nichts mehr wird.“
Erster Berufswunsch: Koch
In Connecticut hatte der Vater einen sicheren Job in der Verwaltung einer Firma, die Spezialleuchtröhren produzierte. Doch das Heimweh der Mutter war zu groß. 1962 ging es zurück nach Deutschland. Der Vater fing bei der Polizeibehörde im Stuttgarter Ordnungsamt an. Schon in früher Jugend hatte Kurt eine Vorliebe für gutes Essen: „Für mich war klar: Ich werde Koch.“
Doch seine Lehrstelle im Waldhotel Schatten brach er ab: „Ich hatte immer die Polizei im Hinterkopf gehabt. Der Drang dorthin war einfach größer.“ Das wundert deshalb nicht, weil Kurt Kindermann familiär vorbelastet war. Neben seinem Vater waren auch die beiden Brüder im Polizeidienst. Seine Laufbahn beginnt in Göppingen bei der Bereitschaftspolizei.
Kindermanns erstes einschneidendes Erlebnis sind die Terroristenprozesse in Stammheim in den Siebzigern. Der junge Beamte ist zur Außenbewachung eingeteilt. Er sieht Joschka Fischer, der ihn als „Scheißbullen“ begrüßt. Auch seine Brüder sind im Einsatz. Ray muss die prominenten RAF-Anwälte Otto Schily, Christian Ströbele, Arndt Müller und Armin Newerla überprüfen. Hans ist zur Sicherheit des Vorsitzenden Richters abgestellt. 1982 kommt Kindermann zur Stuttgarter Kripo. Dass er in die Sonderkommission für ungeklärte Mordfälle berufen wird, hat er einer besonderen Fähigkeit zu verdanken: Er ist begeisterter Zeichner, mit dem Schwerpunkt Porträts. 81 Phantombilder zeichnet er. Doch das ist nicht alles: Unter der Federführung Kindermanns wird der Erkennungsdienst digitalisiert. 1996 geht die erste Erkennungssoftware auf digitaler Datenbasis in Betrieb. „Da waren wir weltweit Vorreiter“, sagt er gelassen. „Die Kripo in Zürich arbeitet immer noch mit unserem System.“
FBI kocht auch nur mit Wasser
Die neuen Techniken der Deutschen sprechen sich auf dem Globus herum. 2004 wird Kurt Kindermann vom FBI eingeladen. Sein amerikanischer Pass macht ihm den Zugang zur legendären Sicherheitsbehörde leichter. Dort muss er feststellen, dass in Washington auch nur mit Wasser gekocht wird: „Wir waren besser als die Amis. Die zeichnen heute noch.“
Engagement bei der FDP
Die deutsche Digitaltechnik, zu der mittlerweile auch das Erkennen von Fingerabdrücken per Handy gehört, wird zum weltweiten Standard: Für die Fußballweltmeisterschaft 2012 in Polen und in der Ukraine werden die dortigen Polizisten mit der digitalen Gesichtserkennung vertraut gemacht. Als EU-zertifizierter Ausbilder unterstützt er Kollegen in Zypern und in der arabischen Welt.
2016 ziehen die Kindermanns nach Leonberg, wo die Frau herstammt. Dort engagiert sich der profilierte Profiler für die FDP in der Kommunalpolitik und wird 2019 in den Gemeinderat gewählt. Zu diesem Zeitpunkt ahnen die Ratskollegen nicht, dass „der Neue“ schon schlimme Jahre hinter sich hat: Kindermann leidet an einer höchst seltenen Autoimmunkrankheit, die neben ihm in Deutschland nur noch ein Mensch hat. Sein Bewegungsapparat und sein Gleichgewichtssinn sind stark beeinträchtigt.
Endlich Zeit fürs Kochen
Nach zahllosen Therapien geht es ihm mittlerweile wieder besser. Dennoch hat der 66-Jährige die Arbeit als Stadtrat aufgegeben. Nun kann sich Kurt Kindermann voll seiner Familie mit zwei Kindern und seinem großen Hobby widmen: dem Kochen.
Eine Passion übrigens, die er mit vielen Polizeibeamten teilt. Es gibt dort sogar einen Kochclub: „Die Kriminalpolizei brät“. Dass Kurt Kindermann dessen Vorsitzender ist, verwundert nicht wirklich.