Die Zahl der Hitzetage in Stuttgart nimmt zu. Wie darauf zu reagieren ist, war unter anderem Thema im Bürgerrat Klima. Foto: Andreas Rosar/ Fotoagentur-/Stuttgart

61 Stuttgarter haben Ideen entwickelt, wie die Landeshauptstadt bis 2035 klimaneutral werden kann. Nun gibt es Streit um den Bürgerrat Klima. Brauchen wir solche Räte denn? Ein Pro und Kontra.

In den vergangenen Monaten wurde in Stuttgart etwas ausprobiert, das es so zuvor noch nicht gab: Ein Bürgerrat, also ein Gremium von zufällig ausgewählten, aber repräsentativen Menschen hat Empfehlungen zum Klimaschutz erarbeitet. Unsere Redakteure Julia Bosch und Christian Milankovic sind geteilter Meinung, ob ein Bürgerrat hilfreich oder hemmend ist. Ein Pro und Kontra.

 

Pro von Julia Bosch

Stuttgart hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: bis in zwölf Jahren klimaneutral zu werden. Und das in einer Stadt, die von Automobilwirtschaft und Industrie geprägt ist. Um dieses Vorhaben zu erreichen, braucht es einen Konsens zwischen Verwaltung, Gemeinderat und Bürgern, wie Emissionen reduziert werden. Der Bürgerrat Klima ist ein wissenschaftlich fundiertes Instrument, um einen Eindruck zu erhalten, zu wie viel Klimaschutz ein Querschnitt der Stuttgarter bereit ist – und was zu weit geht.

Im Vergleich zu vielen anderen Formen der Beteiligung haben Bürgerräte einen großen Vorteil: die Repräsentativität. Zweieinhalb Monate hat man sich Zeit genommen, um 61 Personen zu finden, die die Landeshauptstadt repräsentieren in Bezug auf Alter, Geschlecht, Schulabschluss, Migrationshintergrund, Job, Kinder, wirtschaftliche Lage und gesundheitliche Einschränkungen. Dadurch haben sich nicht nur die mit den lautesten Stimmen beteiligt. Sondern auch Unvoreingenommene, die zu pragmatischen Lösungen kommen bei Streitthemen wie Parkplätze, Heizungen oder Radwege.

Dass es nach einem Bürgerrat Diskussionen gibt, ist normal; bei einem Thema wie Klimaschutz erst recht. Auch in anderen Städten – etwa Freiburg oder Erlangen bei Nürnberg– wurde nach der Übergabe der Empfehlungen heftig diskutiert, auch dort gab es Enttäuschungen. Entscheidend ist, wie der Gemeinderat in Stuttgart nun damit umgeht. Klar ist, dass gewählte Stadträte das letzte Wort haben. Allerdings dürfen die Empfehlungen auch nicht abgetan werden mit dem Hinweis, dazu wären die Stuttgarter nicht bereit. Damit führt man den Prozess ad absurdum.

Kontra von Christian Milankovic

Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Das müssen auch jene zur Kenntnis nehmen, die Bürgerräte, wie etwa jüngst in Stuttgart in Sachen Klima eingesetzt, für eine sinnvolle Ergänzung im politischen System halten. So wie diese Gremien derzeit organisiert sind, in denen zufällig zusammengewürfelte oder schlicht sehr engagierte Menschen zusammensitzen, ist die Enttäuschung programmiert.

Der Knackpunkt: Die in den Runden erarbeiteten Ergebnisse können nicht über einen unverbindlichen Vorschlag hinausgehen. Denn Engagement bei den Teilnehmern ersetzt die politische Legitimation nicht. Die wird nur bei Wahlen erteilt – und kann nicht durch bloße Bereitschaft zur Teilnahme an einem Bürgerrat erworben werden.

Wer erwartet, dass die Vorschläge die vorbehaltlose Unterstützung von gewählten Stadt-, Kreis- und Regionalräten oder Politiker auf Landes- und Bundespolitikern genießen werden, ist schief gewickelt. Sie stellen sich bei Wahlen dem Votum der Wähler und können bei Missgefallen abgewählt werden. Mitgliedern von Räten droht dieses Schicksal nicht. Mandatsträger müssen das große Ganze im Blick behalten, in Bürgerräten kann Partikularinteressen das Wort geredet werden.

Die Unterstützung für die Bürgergremien ist just in den politischen Lagern besonders groß, deren Positionen nicht zwingend mehrheitsfähig sind. Mit dem Verweis auf das Engagement der Bürger bauen sie einen hohen moralischen Druck auf, der im politischen Entscheidungsfindungsprozess fehl am Platz ist. Mit der Überhöhung der Räte-Empfehlungen setzen sie die Teilnehmer der Gefahr von großer Enttäuschung aus.