Wo ist Totilas, das vermeintliche Wunderpferd, das in Wahrheit nie eines war, heute? Foto: Sebastian Ruckaberle

Seit zwei Jahren hat die Öffentlichkeit den Hengst nicht mehr gesehen. Sein Besitzer schirmt den 17-jährigen Glanzrappen mit dem markanten Kopf ab. Umso mehr verehren ihn Tausende Fans. Eine Spurensuche.

Stuttgart - Einen solchen Hype hatte es noch nie gegeben. Eigene Seite im Internet und eigener Pressesprecher, das muss man sich mal vorstellen. Dazu Tassen und Jacken, um die Marke „Totilas“ international zu positionieren. Im Herbst 2010 kaufte Paul Schockemöhle, einer der größten Pferdehändler und Pferdezüchter der Welt, diesen niederländischen Sport- und Zuchthengst, nachdem sein Reiter und Ausbilder Edward Gal bei der Weltmeisterschaft in Kentucky alle drei möglichen Goldmedaillen souverän gewonnen hatte. Die Zuschauer bekamen Gänsehaut beim Anblick dieses Tänzers auf vier Beinen. Die Kaufsumme von zehn Millionen Euro hat der clevere Paul Schockemöhle bis heute weder bestätigt noch dementiert.

In Holland schlugen damals die Wogen derart hoch, dass die Besitzer dieses Ausnahmepferdes, das Ehepaar Jan und Anna Visser, erfolgreich im Immobiliengeschäft, vor den Morddrohungen ihrer erbosten Landsleute tatsächlich fliehen mussten; sie gingen nach England. Der Verkauf des Dressurstars, ausgerechnet an den Dauerrivalen Deutschland – für viele im Lager der Oranje-Reiter eine fiese Art von Landesverrat. Erst vor drei Jahren kehrten die Vissers in ihre Heimat zurück. Der brutale Shitstorm hatte sich gelegt.

Auch Paul Schockemöhle, in den 1980er Jahren mit seinem legendären Deister dreimal hintereinander Europameister der Springreiter, ist mit seinem Traumhengst bis heute nicht glücklich geworden. Der eigenwillige Bauernsohn aus Mühlen in Oldenburg, der seine erste Million verdiente, als er dem Schah von Persien eine Hühnerfarm verkaufte, ist seit der Wende der Besitzer des 2000 Pferde haltenden Gestüts Lewitz in Mecklenburg-Vorpommern. Dazu betreibt er eine global agierende Spedition und einen Handel für Baustoffe.

Dieser in Reiterkreisen als genial und schlitzohrig verehrte Pferdekenner holte sich kurz nach dem Kauf einen schmerzhaften Korb: Isabell Werth, die erfolgreichste Reiterin des modernen Dressursports, lehnte es ab, Totilas in ihren Beritt zu nehmen: „Ich reite nur Pferde, die ich selbst ausgebildet habe!“

Der Hengst kränkelte und verletzte sich beim Absamen

Schockemöhle hatte sie bewusst als Erste gefragt. Werths Mäzenin Madeleine Winter-Schulze gab später zu Protokoll: „Wenn Isabell gewollt hätte, hätte ich ihn für sie gekauft.“ Im Nachhinein räumt Schockemöhle selbstkritisch ein: „Mit Totilas war von Anfang an der Wurm drin!“

Das stimmt. Der Hengst kränkelte, verletzte sich vor lauter Ekstase beim Absamen auf das Phantom, wodurch man Samen gewinnt, portioniert, tiefgefriert und in alle Welt versendet. Die Hoffnung, gleichzeitig Spitzensport und Deckgeschäft betreiben zu können, erwies sich als Illusion. Die eigenwillige, starke Natur des Hengstes hatte etwas dagegen.

Vor zwei Jahren dann, im Sommer 2015, der absolute Tiefpunkt – das Verschwinden des berühmtesten Sporthengstes der Welt. Ann-Katrin Linsenhoff, eine der reichsten Frauen Deutschlands, Tochter der Olympiasiegerin von München 1972, Liselott Linsenhoff, hatte für ihren Stiefsohn Matthias Rath die Sportrechte an Totilas erworben, Schockemöhle behielt die Zuchtrechte. Ob beide Seiten tatsächlich jeweils fünf Millionen Euro auf den Tisch gelegt haben, darüber spekuliert die Szene bis heute. Viele glauben, dass Ann-Katrin Linsenhoff, die in Kronberg im Taunus den hochnoblen Schafhof betreibt, wo sie sich unter anderem eine eigene Kochbrigade mit Sternequalität leistet, die gesamten zehn Millionen aufgebracht hat. Sie wollte offenkundig mit dem Sohn ihres Mannes Martin Rath an die olympischen Erfolge ihrer Mutter und ihre eigenen (Teamgold 1988 in Seoul) anknüpfen. Die näheren Umstände sind bis heute geheim.

Was aber alle Welt mit eigenen Augen sehen konnte, war das schmähliche, ja man muss sagen: das skandalöse Ende von Totilas’ Sportkarriere vor zwei Jahren in der Aachener Soers. Matthias Rath war, das ließ sich nicht leugnen, mit dem leicht angeschlagenen Star zur Europameisterschaft angereist und dort (gegen das Votum eines britischen Kampfrichters) durch die obligate Tierarztkontrolle gekommen. Bereits auf dem Sattelplatz vor Beginn des ersten Wettbewerbs trabte der athletische Rapphengst nicht taktrein, wie es sein muss, sondern „ging ungleich“, wie die Reiter sagen – zwar keine krasse Lahmheit, die sofort das Aus bedeutet hätte, wohl aber sichtbare Probleme. Nur Minuten später, im Stadion vor 25 000 Zuschauern, wurde das Dilemma offenkundig: Totilas blieb weit unter seinen Möglichkeiten, statt der sicher geglaubten Goldmedaille für die deutschen Dauersieger gab’s am Ende nur Bronze. Der Skandal war da, der Hengst wurde sofort zurückgezogen.

„Totilas wird nie wieder öffentlich gezeigt!“

Matthias Rath sagte hernach mit Unschuldsmiene in die Kameras und Mikrofone: „Ich hab’ die Ungleichheit im Sattel gar nicht bemerkt, war so sehr auf meinen Ritt fokussiert.“ Ein reiterliches Armutszeugnis, wodurch sich das kritische Urteil vieler Beobachter bestätigte: Matthias Rath sei, bei allem Respekt vor seinem Bemühen, „ein VW-Fahrer mit einem Ferrari“. Später stellte sich heraus, ein Knochenödem am linken Hinterbein hatte dem Hengst mit zunehmender Dauer der Prüfung zunehmende Schmerzen verursacht. Die Diagnose war knallhart: Der Bewegungsapparat sei der Belastung durch den Spitzensport auf Dauer nicht gewachsen. Normales tägliches Reiten kein Problem – Turniersport ausgeschlossen! Damit war das Schicksal des Superstars besiegelt.

Wo ist Totilas, das vermeintliche Wunderpferd, das in Wahrheit nie eines war, heute? Wie geht es dem charismatischen Hengst? Und was macht dieser ältere „Herr“, den Zehntausende von Fans als ihr persönliches Traumpferd vor Augen haben und im Herzen tragen? Noch immer beten viele Züchter zum heiligen Sankt Georg, dem Schutzpatron der Reiter: einmal im Leben einen Totilas – und dann ausgesorgt für den Rest.

Am 8. Februar dieses Jahres horchte die Reiterwelt auf für einen Moment. Im Internet wurde gemeldet, Totilas werde alsbald auf der internationalen Hengstschau im französischen Saint-Lo in der Normandie der interessierten Züchterschaft präsentiert – nicht unter dem Sattel, wohl aber an der Hand. Ein Sprecher aus der Zuchtstation Schockemöhle bestätigte dies, doch nur wenige Stunden später ließ sein Chef die Nachricht dementieren. Vor wenigen Tagen, am Rande der EM in Göteborg darauf angesprochen, sagt Paul Schockemöhle mit Groll in der Stimme: „Ich habe das sofort dementiert. Totilas wird nie wieder öffentlich gezeigt! Das ist ja auch nicht nötig, denn alle, die es interessiert, wissen ja, wie er aussieht. Den kennt ja jeder.“

Kein Zweifel, dieser Paul Schockemöhle, den nicht wenige im weltweiten Reiterzirkus für einen abgezockten Rosstäuscher halten, leidet an der Causa Totilas. Jakob Melissen (64), der einflussreichste Fachjournalist in den Niederlanden, Autor des bis heute einzigen Buches über Totilas, sagt: „Ich war dabei, als Paul das Pferd zum ersten Mal gesehen hat. Der Hengst war ja als Fünf- und Sechsjähriger Weltmeister bei den Nachwuchspferden. Man hat sofort gespürt, welchen Respekt Paul vor diesem besonderen Tier hat und welche Emotionen ihn aufwühlten.“ Später räumte Schockemöhle, offensichtlich doch einer mit harter Schale und weichem Kern, selbst ein, dass „mir die Tränen gekommen sind, als Totilas damals zu mir nach Mühlen gebracht wurde“.

Nun steht Totilas im oldenburgischen Dörfchen Mühlen

Genau dort, nämlich an der Münsterland Straße im oldenburgischen Dörfchen Mühlen, steht der kapitale Hengst mit einem dicken Schuss Trakehner Blut in seinen Adern heute. Sein Besitzer bestätigt dieser Tage zum ersten Male öffentlich: „Ja, Totilas ist bei uns.“ Also nicht mehr auf dem Schafhof der Familie Linsenhoff in Kronberg. Auf die Frage, ob der Hengst nach wie vor begehrt sei als Vererber, nennt Schockemöhle überraschend offen diese Zahl: „Er hat bis heute zweitausend Stuten gedeckt. Die Nachfrage nach seinen Genen ist ungebrochen.“

Dazu muss man wissen, dass die sogenannte Decktaxe in seinen Glanzzeiten bei stattlichen 8000 Euro lag. Die Hälfte davon war fällig, um den tiefgefrorenen Samen überhaupt zu bekommen, die zweite Hälfte, wenn die Stuten tatsächlich trächtig wurden; die künstliche Besamung klappt nur zu sechzig bis siebzig Prozent. Inzwischen ist Paul Schockemöhle auf eine Decktaxe von nur noch 2500 Euro heruntergegangen. Jährlich, so heißt es aus seinem Umfeld, gehe Totilas’ Samen zu mehr als 200 Stuten, bevorzugt in den Niederlanden, wo der Hengst nach wie vor die meisten Bewunderer besitzt.

Wie prächtig vererbt sich nun dieser einstige Bewegungskünstler? Reiter und Züchter in aller Welt warten gespannt auf die Antwort. Vor Jahresfrist kaufte einer, der es kaum erwarten konnte, ein Totilas-Fohlen für schlappe 105 000 Euro – ein teurer Wechsel auf die Zukunft. Insider, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchten, fällen ein gemischtes Urteil: „Der Hengst hat ein Stockmaß von nur 1,70 Metern.“ Gemessen werden Pferde übrigens am Widerrist. Viele seiner Nachkommen seien für den Spitzensport zu klein, ihre Bewegungen daher begrenzt. Allerdings fänden sich unter den jungen Tieren durchaus Talente, die an ihren ausdrucksstarken Vater erinnerten. Stefan Aust, ehemaliger „Spiegel“-Chefredakteur, heute Herausgeber der Tageszeitung „Die Welt“, sagt: „Ich besitze zwei Söhne von Totilas, die gekört sind, also für die Zucht zugelassen. Mein Bereiter bildet sie aus, ich setze große Hoffnungen in sie.“ Aust kennt sich aus, betreibt seit vielen Jahren im Norden einen Reit- und Zuchtbetrieb.

Und dann ist da noch diese Geschichte, die hier erstmals öffentlich zu lesen steht: Vor geraumer Zeit hat Edward Gal, der niederländische Profi, der Totilas alle Lektionen der gehobenen Dressurschule beigebracht hat, am Stall Schockemöhle vorbeigeschaut und dabei „seinem“ Totilas den ersten Besuch seit ihrer Trennung im Herbst 2010 abgestattet. Ein Augenzeuge schildert es so: „Als Edward kam, hat ihn Paul spontan gefragt: Willst du ihn mal wieder reiten?“ Nach einigem Zögern sei Gal zu seinem Wagen gegangen, habe Reithose und Stiefel angezogen und sei in den Sattel gestiegen. Urteil des Betrachters: „Es war magisch – nach nur wenigen Minuten ging Totilas wie einst.“ Der Mythos lebt.