Jazztrompeter Herbert Joos war beim Osterjazz zu Gast im Theaterhaus Stuttgart. Foto: Jörg Becker/Theaterhaus

Festivals können Dynamik entfalten, Diskussionen anstoßen, den Blick weiten. Ein Musterbeispiel, wie das gelingen kann, ist der facettenreiche Oster-Jazz im Theaterhaus Stuttgart.

Stuttgart - Nun sind es doch 4000 Besucher geworden, wie im Vorjahr – „und mir scheint, es geht mehr in die Breite, das freut uns sehr“, sagt Theaterhaus-Chef Werner Schretzmeier (71). Am Karfreitag hat er mit einem kleinen Sturz von der Bühne für Schrecksekunden gesorgt, ist aber unbeschadet geblieben. „Ich kicke seit über 50 Jahren, das muss ja für etwas gut sein“, sagt er und grinst.

Ein Wiederauferstandener

Den Schlagzeuger Wolfgang Haffner ereilte im Sommer 2014 ein Herzinfarkt, mit 48. Davon ist nichts zu spüren, Haffner präsentiert sich am Samstag topfit, bearbeitet energisch Trommeln und Becken und legt seinen funky Groove vor, der selten ist im Jazz. Die Band, eigens fürs Festival zusammengestellt, macht dem Titel „Allstars“ alle Ehre: Gitarrist Ulf Wakenius (Oscar Petersen) und Bassist Dan Berglund (E.S.T.) aus Schweden sowie der marokkanische Perkussionist Rhani Krija (Sting, Herbie Hancock). „Das bekommt man nur hier im Theaterhaus“, sagt Haffner, „andere Festivals wollen, dass man die aktuelle CD mit genau der Besetzung genau so spielt.“

„Kind Of Cool“ heißt Haffners jüngstes Werk mit Modern-Jazz-Standards, und schon bei „So What“ ist klar: Dies wird ein besonderer Abend. Krija unterlegt dem Groove eine Polyrhythmik, wie sie sonst nur Santana hat, er lässt Bongos, Congas und sonstiges Schlagwerk klicken, schnarren, donnern. Wer Wakenius hat, braucht weder Bläser noch Klavier, so virtuos, ideenreich, harmoniebewusst gestaltet er die Themen. Und Berglund ist ein extrem findiger Bassist, der mit Tönen Geschichten erzählen kann, sein Instrument aber auch raunen und schreien lässt.

Als die Band „Believe Beleft Below“ anstimmt, eine Zauberballade des 2008 verstorbenen Esbjörn Svensson, die Wakenius auf einem Soloalbum interpretiert hat, geht ein Raunen durch den Saal. Berglund scheint den Tod des E.S.T.-Bandleaders verarbeitet zu haben und ehrt ihn mit einem einfühlsamen Solo – ein wahrhaft großer Konzertmoment. Stundenlang könnte man ihnen zuhören, hoffentlich bleibt dieses Erlebnis nicht einmalig. Unbegreiflich, wieso der üppig ausgestattete Landessender SWR nicht einmal an solchen Abenden zugreift und aufzeichnet.

Zwei Jubilare

Oder bei Herbert Joos, in Karlsruhe geboren und seit Jahrzehnten wohnhaft in einer Stuttgarter Dachwohnung, der zu seinem 75. Geburtstags gebührend gefeiert wird: als Zeichner sehr sehenswerter Jazz-Porträts, die im Theaterhaus zum Verkauf ausgestellt sind, und als Trompeter beim Alpine Birthday Special, das sein Professorenfreund „Wolfi“, der Saxofonist Wolfgang Puschnig aus Wien, spektakulär auf die Bühne bringt.

Es ist die spannende Begegnung der Amstettener Blaskapelle aus Niederösterreich mit einem bärenstarken Jazzquintett, in dem Jon Sass Tubatöne schaukeln lässt und der legendäre Jamaaladeen Tacuma einen satt und fett klingenden E-Bass spielt. Zu Gehör kommen am Karfreitag harmonisch und rhythmisch anspruchsvolle Trauermärsche, bei denen es immer wieder ins Freie hinausgeht: dahin, wo Jazz noch heftig und wild sein darf. Der Jubilar ist ganz in seinem Element und bläst – oft mit beigefügtem Heißluftgemisch – klar konturierte Chorusse, auf die die zwölf Burschen aus Amstetten zünftig antworten. Nicht alle Zuhörer begeistert diese eigenwillige Geburtstagsmusik aus getragenen, oft schrägen Beerdigungsklängen.

Einhellige Zustimmung und helle Freude herrscht dagegen bei den Ständchen, die Flügelhornist Ack van Rooyen zu seinem 85. Geburtstag sich selbst bringt. Mit von der Partie eine Handvoll europäischer Spitzenjazzer, darunter Haffner am Drum-Set und Trompeter Joo Kraus mit einem spektakulären Gastauftritt. Aufrecht wie eine Eins, gelassen, souverän und geistreich glänzt der Jubilar mit dem für ihn typischen beseelten, fantasievollen und samtenen Flügelhornspiel, bei dem das Herz aufgehen kann. Von musikalischer Altersschwäche keine Spur. Mancher wird sich nach dem umjubelten Konzert sagen: „Es muss schön sein, auf diese Weise alt zu werden.“ Ack selbst bemerkt lächelnd: „Also, dann vielleicht bis zum nächsten Mal im Theaterhaus!“ Und hat wohl seinen 90. Geburtstag im Sinn. 

Jazz der Zukunft

Am Samstag steht der Geiger, Pianist und Komponist Gregor Hübner bei zwei Konzerten im Zentrum. Geboren in Stuttgart, aufgewachsen in Ravensburg, lebt er seit 20 Jahren mit Familie in New York und hat seit sechs Jahren eine Gastprofessur für Komposition in München inne. Aus seinen besten Studenten hat sich das Munich Composers Collective formiert, ein 17-köpfiges, sehr wandlungsfähiges Jazzensemble mit außergewöhnlicher Besetzung, das ein Fenster aufstößt in die Zukunft des Orchesterjazz. Spektakulär gerät der Auftritt der Ex-Punk-Gitarristin Monika Roscher, die – von Vogelgezwitscher und Sternennächten inspiriert – auch ein jüngeres Publikum total begeistern kann.

Mit dem New Yorker Pianisten Richie Beirach, der seit kurzem in der Pfalz wohnt, bildet Hübner ein mitreißendes Quartett. Mit von der Partie: Gregors Bruder Veit am melodiös gespielten Kontrabass und Power-Drummer Mickey Kersting. Die vier bewegen sich bei Coltranes „Transition“ zwischen Blues Idiom und Free Jazz, spielen Beirachs Originalkompositionen, Jazzstandards und machen Ausflüge in die wunderbare Musik von Bach. Gregor Hübner, der Mann des Abends, glänzt dabei stets als virtuos improvisierender Violinist.

Große Musikalität zeigt am Sonntag auch die Saxofonistin Alexandra Lehmler, Landesjazzpreisträgerin 2014. Als ruhender Pol phrasiert sie lyrische Melodiebögen, während um sie her das kreative Chaos ihres elastischen Quintetts tobt – „Les voisins imaginaires“ heißt treffend der Titel („die Nachbarn, die man sich einbildet“). Mittendrin unter den Jungen Herbert Joos, der tiefe Sehnsucht und feuriges Verlangen aus Flügelhorn und Trompete tropfen lässt.

Macht der Stimmen

Ganz langsam wird alles viel schneller. Aus metallisch flirrenden Beckenklängen des Drummers Lucas Niggli, die Andreas Schaerer ostinat mit einer kleinen hellen Phrase seiner Kopfstimme begleitet, schält sich ein temporeicher, stringenter und mächtiger Rhythmus heraus, der dröhnend eine große Sogwirkung entfaltet, bevor er wieder ganz langsam verebbt. Die beiden Schweizer sind keine Kracher, sondern Rhythmusmenschen mit Leib und Seele, ein faszinierendes Duo, das allein mit Stimme und Perkussion maximale Wirkungen erzielen kann.

Lyrik der südafrikanischen Dichterin Lebogang Mashile rezitiert die Stuttgarterin Lisa Tuyala zum wunderbar klaren, atmosphärischen Kammerjazz ihres Spoken Word Impro Orchestra – ein besonderes Strahlen aber liegt über Passagen, in denen sie mit glockiger, voller Stimme singt.

Eine irre Klangcollage stellt der österreichische Posaunist Christian Muthspiel her: Zur Lyrik Ernst Jandls zeichnet er live Klänge auf und schichtet sie, einmal gar Vogelstimmen aller Art, zwischendurch selbst flügelschlagend und krähend – das hätte ihm sicher gefallen, dem Schöpfer von Gedichten wie der Nörgler-Hymne „heutentag“ („so es sein aufbauen sich der scheißen leben“) .

Tanzt!

Das Festival sucht Verbindungen nicht nur zur Lyrik. Die Österreicherin Lia Pale verjazzt mit Band geschmeidig Franz Schuberts „Winterreise“ und singt leidenschaftlich – auf Englisch, wo der Kontrast zwischen Swing und kantigem Deutsch wirken könnte. Experimenteller nähert sich Kontrabassist Dieter Ilg mit Trio Beethoven. Obwohl sich dessen Musik hörbar gegen die Öffnung sträubt, gelingt diese: Ein Teil aus der „Pathétique“ gerät zum flirrenden Bop, ein anderer zur einfühlsamen Jazzballade.

Wie Jazz und Tanz zueinanderfinden, demonstrieren die Japanerinnen Yui Kawaguchi und Aki Takase in ihrer Performance-Reihe „Die Stadt im Klavier“. Musik und Bewegungen verschmelzen hier zur Einheit im spielerischen Wirbeln mit Kugeln, Ballett, Varieté, Ausdruckstanz, Klassik, Modern Jazz und verruchtem Hotelbar-Piano.

Eine ähnliche Annäherung wagen nun auch das wohlklingende Quartett um den aktuellen Landesjazzpreisträger Magnus Mehl und drei Solisten des Stuttgarter Balletts: Tanzpreisträgerin Elisa Badenes, Jesse Fraser und Pablo von Sternenfels springen vor der Band über die Bühne, sie überschlagen sich, drehen Pirouetten und genießen sichtlich die Freiheit, die der Jazz als Kunstform geradezu einfordert. Noch verbindet sie vor allem der Swing, doch schon blitzt anderes auf: In Frasers Dreiecksgeschichte „Easy Come, Easy Go“ röhrt der Lautmaler Magnus Mehl ins Saxofon, während die Männer ein Streitgespräch simulieren. Diese Stuttgarter Kooperation hat Potenzial und Zukunft.

Erhebende Momente

Angeregt und beschwingt verlassen die Besucher Abend für Abend das Theaterhaus – das Festival hatte viele erhebende Momente zu bieten. Einer hat sie alle verpasst und 4000 Gebührenzahler übergangen: der Landessender SWR. Das ist einfach nur traurig.