Mesut Özil erklärt sich zum Verfolgten – die Anhänger des FC Arsenal stehen laut Fanplakat auf seiner Seite Foto: AP

Die Spieler dürfen nicht sagen, was sie wollen. Andere schweigen lieber gleich ganz. Oder lügen wie bei Grabreden, in Heiratsannoncen und Regierungserklärungen, schreibt unser Kolumnist Oskar Beck.

Stuttgart - Martin Hinteregger ist ein kantiger und naturbelassener Österreicher. Sein Horizont endet nicht an der Eckfahne, und nachdenklich hat der Abwehrkämpe des FC Augsburg den Fußball dieser Tage zur Diktatur erklärt, in der die Redefreiheit unterdrückt wird, mitsamt der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Hinteregger sagt: „Als Profifußballer kannst du nicht mehr du selbst sein. Es wäre schön, wenn man das sagen könnte, was man denkt. Und nicht das, was man sagen muss.“

Als Kicker, verrät uns Hinteregger, wird man in eine Zwangsjacke gesteckt, ruhig gestellt und zu Aussagen veranlasst, die sich nicht immer im Zentrum der Wahrheit bewegen. Auf gut Deutsch gesagt: Im Fußball wird mittlerweile gelogen wie bei Grabreden, in Heiratsannoncen und Regierungserklärungen.

Wahr ist, was nützlich ist und dem Image dient

Wie Politiker reden ja inzwischen fast alle. DFB-Kapitän Manuel Neuer hat sein langes Schweigen zum Sündenfall Mesut Özil zuletzt im Bayern-Trainingslager am Tegernsee mit den vielsagenden Worten gebrochen: „Ich bewerte das nicht. Es war viel Hin und Her. Es wurde sowieso sehr viel darüber geredet und gesprochen.“ Die knallharte Frage, warum er sich nicht früher geäußert hat, parierte Neuer mit der butterweichen Antwort: „Es war Urlaub angesagt, und es wurde nicht gefragt. Ich habe gelernt, dass man nichts sagen muss, wenn man nicht gefragt wird.“

Immer mehr Fußballer lernen das und dienen der Wahrheitsfindung auf zeitgemäße Art: Wahr ist, was nützlich ist und dem Image dient, dem des Clubs und dem eigenen.

Kluge Experten verbrennen sich nur ungern das Maul – also halten sie es

Letzte Woche hat sich die ARD von ihrem Experten Philipp Lahm getrennt. Sportkoordinator Axel Balkausky hätte sich vom DFB-Ehrenspielführer während der WM „deutlichere Einschätzungen gewünscht“. Stattdessen verbreitete Lahm mit der Reporterin Jessy Wellmer stets gute Laune, schwärmte vom bunten Regenbogen über dem Tegernsee oder erklärte uns, dass der Ball auch in Russland rund ist und das Gras grün. In die Pfanne gehauen hat er Bundestrainer Jogi Löwund dessen Versager erst nach der WM im sozialen Netzwerk – weil er, mutmaßen seither böse Zungen, den DFB vollends groggy hauen will, um dort eine Karriere anzupeilen.

Ohne kühles Kalkül riskiert kaum einer noch ein offenes Wort, schon gar nicht TV-Experten. Viele sind auf Jobsuche, wollen irgendwann wieder Trainer oder Manager werden und schlagen sich nicht mit übertriebener Kritik alle Türen zu. Als Matthias Sammer Experte bei „Eurosport“ wurde, warnte ihn Uli Hoeneß zügig: „Ich würde Matthias dringend raten, in seinem neuen Job relativ wenig über Bayern zu reden.“ Kluge Experten verbrennen sich nur ungern das Maul, also halten sie es, zumindest an der richtigen Stelle, und eiern um den heißen Brei lieber taktierend herum.

Mesut Özil stilisiert sich als Opfer

Wie hart geht Sammer, der ja inzwischen Borussia Dortmund berät, in seinem nächsten Expertenjob wohl mit dem BVB ins Gericht? Oder hat Mehmet Scholl, der Bayern-Insider, als ARD-Sachverständiger seine Bayern mit dem Ausplauern brisanter Interna jemals zur Weißglut getrieben? In solchen Interessenskonflikten ist die Wahrheit rasch keinen Schuss Pulver mehr wert, jedenfalls sind die glaubhaften Zeiten passe, in denen unser Altkanzler Helmut Schmidt noch erleichtert sagen konnte: „Ich lese ab und zu die Bild-Zeitung, die Bundesligaergebnisse sind dort meistens richtig.“

Heute? Nichts und keinem darf man noch glauben. Womöglich nicht einmal Mesut Özil, der sich zum Verfolgten erklärt, obwohl viele im Land eigentlich nur endlich mal wissen wollen, warum er sich die Augen küssen lässt von einem Politiker, der Menschen schikaniert und seltsame Werte vertritt. „Ich bin ein Opfer des Rassismus“, sagt Özil stattdessen, aber ist es die Wahrheit? Oder ist es nur eine gut gezündete Nebelkerze seiner Berater, zur Ablenkung? „Rassismus?“, hat sich Bayern-Boss Karlheinz Rummenigge totgelacht, „da wird von Özils Beratern eine Fabel erzählt.“

Berater und Vereinsbosse reißen Witze über die leichtgläubigen Fans

Der Fußball ist voller Märchenstunden. Aber groß im Kommen ist inzwischen auch das Schweigen, obwohl Marcuse als Philosoph der 68er einst vehement warnte: „Die Unwahrheiten liegen oft nicht in dem, was man sagt, sondern in dem, was man nicht sagt.“ Die deutschen Ex-Weltmeister sagen seit Wochen fast nichts, der Manager Bierhoff eher noch weniger, und der Bundestrainer ist zuletzt sogar dem Internationalen Trainerkongress in Dresden ferngeblieben, um nicht im Rahmen der Wahrheitsfindung womöglich verhört zu werden.

So gibt es viele Fragen, aber keine Antworten. Aber die sind sowieso nicht viel wert, weiß Hinteregger, denn jeder sagt nur noch, was er sagen muss. Entsprechend fallen viele Interviews aus, die PR-Strategen der Stars und der Clubs sorgen vor der Veröffentlichung immer öfter für ihre Zweckdienlichkeit. Da wird frisiert und geschönt, bis nur noch heiße Luft und Blabla übrig bleibt und die Fußballer von ihrem tollsten Club der Welt mit den tollsten Fans der Welt schwärmen – wenn sie dann nach dem geglückten Torschuss auch noch das Vereinslogo auf dem Trikot küssen, sind die Berater und Vereinsbosse glücklich und reißen Witze über die leichtgläubigen Fans, die das alles fressen.

Nie ist so selbstverständlich und mit dem reinsten Gewissen gelogen worden

Es gibt nichts Schöneres als die Wahrheit, die reine Wahrheit, nichts als die Wahrheit – aber die von Imagepflegern hochgeschminkte Fußballbranche pinselt sich ihre eigene, noch viel schönere Wirklichkeit. Wenn man die Strippenzieher und ihre Kicker zum Tragen eines Lügendetektors verpflichten würde, würde der auf der Stelle ticken, rattern, glühen und unter Getöse explodieren.

Was soll ein Fußballfan noch glauben? Besser nichts. Nie ist so selbstverständlich und mit dem reinsten Gewissen gelogen worden. Zu viel Geld ist im Spiel, um die Dinge noch dem Zufall oder dem offenen Wort zu überlassen, wie wusste schon Winston Churchill: „Nur Kinder, Narren und sehr alte Leute können es sich leisten, die Wahrheit zu sagen.“

Auf gar keinen Fall aber Fußballer. In diesem Geschäft kann man nur noch uns Journalisten jedes Wort bedenkenlos glauben. Und Martin Hinteregger.