Simon Neal (Ödipus) und Tanja Ariane Baumgartner (Jokaste). Foto: Monika Rittershaus

Die Schuld des Schuldlosen: An der Oper Frankfurt hat Hans Neuenfels seine Neufassung von George Enescus Oper „Oedipe“ inszeniert.

Die Schuld des Schuldlosen: An der Oper Frankfurt hat Hans Neuenfels seine Neufassung von George Enescus Oper „Oedipe“ inszeniert.

Frankfurt - Mit lautem Lachen stirbt die Sphinx, und alle Fragen bleiben offen. Auch jene, die sie selbst zuvor dem Ödipus stellte. „Was ist stärker als das Geschick?“, lautete sie, und „Der Mensch!“ gab Ödipus zur Antwort. Aber gibt der Tod des rätselhaften Sagenwesens ihm nun Recht, oder sagt uns ihr Lachen, dass sie als Siegerin geht? Die Geschichte von jenem Vatermörder und Muttergatten, an dem später Sigmund Freud etliche Grundfesten seiner Psychoanalyse festmachte, steckt voller dunkler Gegensätze. Auch später, wenn sich der traurige Held just in jenem Moment die Augen ausstechen, in dem er erstmals klar sieht – und erkennt, dass er, obwohl ihn das Schicksal vor sich her trieb, dennoch selbst für sein Tun die Verantwortung tragen muss.

Für den rumänischen Komponisten George Enescu (1881-1955) war die griechische Ödipus-Sage ein Lebensthema: Mit seiner Oper über den antiken Stoff hat er sich 25 Jahre lang beschäftigt und nach eigenen Angaben „zehn Arbeitsjahre“ an seinem „Oedipe“ komponiert. Die Uraufführung in Paris 1936 war ein großer Erfolg. Dass die Oper heute nur noch selten gegeben wird, mag an ihrem letzten Akt liegen, der die widersprüchliche Idee von einem gleichzeitig fremd- und selbstbestimmten Individuum mit einer Überdosis Erlösungspathos aushebelt. Es mag auch an Enescus nachromantischer Musik liegen, die ein sinfonisches Eigenleben führt und sich zum Text nur sehr schüchtern in Beziehung setzt. Ein paar wiederkehrende Motive gibt es, ein bisschen volksliedhaft Wirkendes, Atmosphärisches, etliche raffinierte Klangfarbenmischungen und zwischendurch packende dramatische Akzente. Aber man muss sich einlassen auf den schillernden Klangfluss, um all das wahrzunehmen, was er an interessantem Treibgut mit sich bringt, und man braucht einen Dirigenten, der sich mit Liebe und Klarheit der Partitur annimmt.

Vierter Akt gestrichen

Alexander Liebreich hat das am Sonntagabend am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters getan. Und um eine Übersetzung des Mythos und seiner Opernfassung hat sich der Regisseur Hans Neuenfels verdient gemacht, indem er zuallererst den vierten Akt komplett strich. Außerdem pflanzt der dem Stück einen Blick von außen, von heute ein: Beim Vorspiel kommt ein Mann mit Stirnlampe auf die Bühne, betrachtet die zahlreichen Formeln, welche die verschiebbaren Schieferwände von Rifail Ajdarpasics Bühne bedecken, schreibt, vertieft sich, beobachtet, mischt sich ein – und schlüpft schließlich in die zentrale Partie. Der Forscher ist Ödipus; „Das werde ich sein“ hat schon zuvor einer jener Zwischentexte, mit denen Neuenfels das Geschehen reflektiert, den Rollenwechsel erläutert. „Die Geschichte holt mich ein“, liest man später, und: „Will ich das? Was wäre die Alternative?“

Neuenfels spielt: mit dem Stoff, mit den Widersprüchen darin, und ein bisschen spielt er auch – selbstironisch, selbstverliebt –mit Neuenfels-Klischees. So entledigt sich also wieder mal ein überdimensioniertes männliches Geschlechtsteil seiner Säfte, etliche Punks mischen den betont statisch und uniform gehaltenen Chor auf, und manche Projektion zaubert den Zuschauern zwischendurch ein Lächeln ins Gesicht. „Ich bin mitten in der Geschichte“, umschreibt etwa ein Text die Situation des Helden. „Ich bin ich. Es gibt keinen anderen mehr. Ich werde nie Rentner.“

Schön wär’s ja. Aber ob es wirklich besser ist, am Ende blutüberströmt und mit ausgestochenen Augen den Schauplatz des Grauens zu verlassen, ist doch eher anzuzweifeln. Der Bariton Simon Neal immerhin gestaltet den Abgang des Ödipus so überzeugend, wie er zuvor schon dessen allmähliches Erkennen deutlich machte. Er gibt dem Helden auch stimmlich Kontur, und neben ihm glänzen vor allem Katharina Magiera als Sphinx, Britta Stallmeister als Antigone und Michael McCown als Hirte. Seine Wirkung entfaltet der Abend maßgeblich auch durch die Sänger, und die Wirkung ist mächtig: ein Neuenfels-Theater der durchdachten, mehrbödigen, auch amüsanten Art.

Nur am Ende ist der alte Meister dann doch ein bisschen weich, ein bisschen sentimental geworden. Die letzte Projektion des Regisseurs zumindest wirkt wie ein Einlenken. „Es gibt keine Erkenntnis außer der Hoffnung“ ist das letzte Textstück, das Neuenfels dem Publikum auf den Heimweg mitgibt. Da ist er doch tatsächlich mit einem Fuß selbst in die Kitschfalle geraten, aus der er Enescus vieraktiger Opernfassung gerade befreit hatte. Das Publikum hilft ihm mit fast ungetrübt freundlichem Beifall heraus.