Sommersonne und schulfrei – nicht jeder Jugendliche kann sich darüber freuen. Wer ohnehin mit Problemen zu kämpfen hat, schlittert dann oft in eine ernste Krise. Die Evangelische Jugend Stuttgart bietet Hilfe per Mail.
In den sozialen Medien herrscht zurzeit eine Flut an Bildern, die chillende Jugendliche an muschelgespickten Stränden zeigen, lachende Familien vor touristischen Attraktionen, glückliche Menschen vor kuhbestückten Bergkulissen.
Unter dem Hashtag #Sommerferien bei Instagram etwa öffnet sich eine Welt, die so heil ist, dass man es kaum glauben mag. Und wahrlich ist es so, dass schaukelnde Hängematten und baumelnde Seelen den Blick auf eine andere Wirklichkeit verstellen: Sommerferien bedeuten für manche Jugendliche nicht Unbeschwertheit am Meer, Sonne und Eisbecher, sondern Einsamkeit, Depression und Gewalt.
„Hallo, ich schreibe diese Mail, weil ich Hilfe brauche. Ich leide unter Depressionen und verletzte mich zudem selbst. Ich habe Suizidgedanken und habe vor einigen Monaten auch schon versucht, mich umzubringen. Ich würde mich über eine Antwort sehr freuen.“
Die Mail dieser Jugendlichen, nennen wir sie Mara, passt nicht zu den fröhlichen Instagram-Bildern, doch auch sie ist ein Teil der Ferienrealität. Denn in den sechseinhalb Wochen sind Jugendliche wie Mara, die ohnehin mit Problemen zu kämpfen haben, gefährdeter denn je, in eine Krise zu geraten. Freunde melden sich in den Urlaub mit der Familie ab, während man selbst mit seinen Schwierigkeiten und Belastungen – von der Essstörung bis zur häuslichen Gewalt – allein daheim bleibt. Zudem zerfasert in dieser Zeit die gewohnte Tagesstruktur und damit ein Stück Halt.
Das Team von „nethelp4u“ ist in den Sommerferien besonders gefordert, auch in diesem Jahr wieder. „Uns erreichen Hilfemails, die von Einsamkeit, Kummer und Traurigkeit geprägt sind. Da bilden sich ganz diffuse Gefühle und Ängste heraus, die Zukunft wirkt plötzlich total bedrohlich“, sagt Christoph Werkmann, Jugendreferent der Evangelischen Jugend Stuttgart, der als Hauptamtlicher das Online-Beratungsangebot leitet.
Bei „nethelp4u“ beraten sogenannte ehrenamtliche Peerberater Hilfe suchende Jugendliche anonym per Mail. „Diese Berater sind idealerweise zwischen 16 und 25 Jahre alt. Das ist der Grundgedanke: Junge Menschen begleiten Gleichaltrige“, sagt Christoph Werkmann. Einer von ihnen ist der 23-jährige Samuel Lindenberger. „Ich kann mich selber noch gut an meine Schulzeit erinnern und dadurch eher nachvollziehen, welche Themen die Jugendlichen beschäftigen und wie ihre Lebensrealität aussieht“, sagt er.
Vor vier Jahren hat Lindenberger, wie alle Peers, nach einem Erstgespräch an zwei Wochenenden eine Kurzausbildung durchlaufen. Hinzu kamen Besuche in Einrichtungen, an die Hilfesuchende weitervermittelt werden können. Alle sechs Wochen gibt es ein Peertreffen mit Supervision.
In den Mails auf „nethelp4u“ ist wenig Raum für oberflächliches Geplauder. Die Verantwortlichen haben die Nöte ihrer Klienten in einer Statistik erfasst: Bei neun Prozent der Mails geht es um eine konkrete Selbsttötungsplanung, eine Selbsttötungsabsicht äußern 16 Prozent der Jugendlichen, Selbsttötungsgedanken hegen 19 Prozent. 14 Prozent zeigen selbstverletzendes Verhalten. Acht Prozent haben mit depressiven Verstimmungen zu kämpfen. 16 Prozent erleben sexualisierte Gewalt. Mit Sucht und Abhängigkeiten haben fünf Prozent zu tun. Unter Leistungsdruck leiden sieben, unter Mobbing sechs Prozent.
Er habe inzwischen gelernt, professionell mit schwierigen Situationen umzugehen, sagt Samuel Lindenberger. Dazu gehört auch, die Probleme der anderen nicht allzu sehr ins eigene Leben mitzunehmen. „Meistens langt es mir, wenn ich mich auslogge und das Browserfenster schließe“, sagt er. „Gelingt mir das mal nicht, kann ich mich jederzeit bei unserem Leiter oder bei Teamkollegen melden.“
„Hey, ich bin wieder einmal an einem Tiefpunkt angekommen und weiß nicht, ob es überhaupt noch Sinn macht, das weiter durchzumachen. Ich melde mich, weil ich einfach jemanden zum Reden brauche, dem ich ohne Angst davor, ‚weggesperrt‘ zu werden, alles erzählen kann, was gerade so passiert.“
Sind Mails denn überhaupt das richtige Mittel, um in existenziellen Krisen zu helfen? „Wir setzen nach all den Jahren darauf, dass jemand, der uns um Hilfe wegen Suizidgedanken bittet, sich gar nicht wirklich umbringen will“, sagt der Leiter Christoph Werkmann. „Die Jugendlichen sind nur oft so unglaublich hilflos, dass sie sich einfach wünschen, wenigstens für eine Zeit lang weggebeamt oder in Tiefschlaf versetzt zu sein – um dann wieder zu erwachen, und alles ist gut.“
Ihm sei natürlich bewusst, „dass wir das nie so genau wissen können“. Die Peers seien aber gut vorbereitet. Ihre Aufgabe sei, die Hilfesuchenden aufzubauen, ihnen Mut zu machen und ihnen einen Weg durch den seelischen Dschungel zu weisen. Zudem hätten sie gelernt, nicht stets schlaue Antworten parat zu haben, sondern eher Fragen zu stellen, um herauszufinden, welche Hilfsstruktur jeweils greifen könnte: „Wir wollen die Hilfesuchenden dazu bringen, sich in ihrem jeweiligen Ort und Umfeld professionelle Hilfe zu holen“, sagt Christoph Werkmann. „Manchmal helfen wir auch einfach nur, die sehr langen Wartezeiten für eine Therapie zu überbrücken.“
„Hi, ich hab das noch nie gemacht und weiß nicht, ob es hilft – aber ich habe ein Problem. In letzter Zeit kreise ich immer mehr um den Gedanken, wie nutzlos ich bin. Dadurch verliere ich Motivation und Kontrolle. Die Tage erst fühlte ich mich nicht in der Lage zu arbeiten oder auch nur weiterzumachen. Mein letzter Suizidversuch ist wenige Monate her – ich bin nur noch da, weil es in der letzten Sekunde bei mir geklickt hat. Ich weiß jedoch nicht, ob es beim nächsten Mal noch einmal zum Klick kommt.
Ich würde mir nur wünschen, dass das hier überhaupt jemand liest. Danke.“
Dass die Mail an „nethelp4u“ nicht nur gelesen, sondern beantwortet wird, dessen kann sich jeder Hilfesuchende sicher sein. Innerhalb von 48 Stunden kommt garantiert eine Antwort – egal ob in den Ferien oder am Wochenende. „Mir ist es wichtig, für junge Menschen da zu sein, denen sonst niemand Gehör schenkt“, sagt Lindenberger. Der jüngste Mailpartner bei „nethelp4u“ war zehn, der älteste 25 Jahre alt– der Großteil zwischen 13 und 18.
„Unser Angebot richtet sich vor allem an die Jüngeren, denen es unglaublich schwerfällt, überhaupt über ihre Probleme und Krisen mit jemandem zu reden – vor allem von Angesicht zu Angesicht“, sagt Christoph Werkmann. „Da bietet die anonyme Form unserer Mailberatung eine Chance.“ Mehr als 90 Prozent der Mails kommen von Mädchen und jungen Frauen. Das bildet sich auch bei den Peermitarbeitern ab: Von derzeit 20 Beratern sind nur drei männlich. „Alle Peers, egal welchen Geschlechts, übernehmen aber gleichberechtigt die Fälle“, sagt Samuel Lindenberger. „Nur bei Hilfegesuchen von Mädchen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, halten wir Männer uns zurück.“
Die Zahl der Hilferufe ist hoch. „Trotz des bundesweiten massiven Ausbaus von niedrigschwelligen Beratungsangeboten wie ‚nethelp4u‘ erreichen uns gerade in den Sommermonaten täglich zwischen zehn und 15 Mails. Im Jahr summiert sich das auf weit mehr als 3000“, sagt Christoph Werkmann. Und die Corona-Isolation habe die Situation vieler Jugendlicher noch verschärft.
Durch die Anonymität – die Berater haben keinen Zugriff auf die IP-Adresse der Hilfesuchenden – fühlen sich Jugendliche beim Angebot der Stuttgarter Evangelischen Jugend sicher. Die Angst, etwa gegen ihren Willen in eine geschlossene Einrichtung zu müssen, fällt weg. „Andererseits kann unsere Beratung keine Therapie ersetzen, wir machen niemanden gesund“, sagt Christoph Werkmann.
Die Begleitung der Hilfesuchenden dauert in der Regel zwischen zwei und drei Monaten oder zwischen zehn und 30 Mails. Manche melden sich nur ein einziges Mal. „Manchmal ist es ihnen am Morgen danach fast schon peinlich, sich Hilfe geholt zu haben“, sagt Christoph Werkmann. „Manchmal hat sich auch beim Verfassen der Mail schon so etwas wie eine Struktur ergeben – und Licht erscheint am Horizont. Das ist wie die therapeutische Wirkung von Tagebuchschreiben.“
Der längste Kontakt habe über zwei Jahre angehalten, das sei dann „schon fast wie eine Brieffreundschaft“ gewesen. Gelegentlich, wenn sich ein Hilfesuchender längere Zeit nicht mehr meldet, schickten die Berater eine „Kontroll-Mail“ im Sinne von: Ich wollte nur mal nachfragen, wie es dir inzwischen geht.
Besonders in solchen Fällen könne es dann schon vorkommen, dass sich ein Hilfesuchender bei seinem Peer bedankt. „Mich berührt es, wenn jemand schreibt, dass er es endlich geschafft hat, sich bei den Eltern zu outen. Oder dass er durch mein Zureden motiviert wurde, eine Therapie zu beginnen“, sagt Samuel Lindenberger. „Das gibt mir das Gefühl, etwas Sinnvolles gut zu machen.“