145 Fälle von Vernachlässigung oder Kindesmisshandlung hat das Kinderschutzteam des Olgäle im Jahr 2012 dokumentiert und dadurch Schlimmeres verhindert. Während das Modell in Fachkreisen hoch gehandelt wird, fehlt es an finanzieller Unterstützung des Landes und der Krankenkassen.
Stuttgart - Ein siebenjähriger Junge wird von seiner Mutter ins Olgahospital gebracht. Er ist völlig verbissen von zwei Rottweilern. Die Ärzte versorgen ihn medizinisch, doch man interessiert sich außerdem dafür, wie es dazu kommen konnte. Die Frau erhebt schwere Vorwürfe gegen den Vater.
Nun schenken Ärzte in einem Krankenhaus einem Streit zwischen Paaren nicht in erster Linie Interesse; im Vordergrund steht das gesundheitliche Wohl ihrer Patienten. Doch das Personal am Olgäle wird hellhörig und findet heraus, dass die Frau es mit der Erziehung und der Sorge um das Kind nicht so genau nimmt. Aus Angst, das Jugendamt könnte ihr den Jungen „wegnehmen“, hat sie noch nie um Hilfe gebeten. Die Ärztin, eine Familienpflegerin und eine Sozialarbeiterin, allesamt aus dem Kinderschutzteam der Klinik, können sie von den angebotenen Hilfen zuletzt aber überzeugen.
Die vier Personalstellen des Teams, ein Arzt, eine Kinderkrankenpflegerin und die Sozialarbeiter, sind beim Jugendamt angesiedelt. So gesehen dient das Team zwei Herren: dem Eigenbetrieb Klinikum und der Stadt. „Beim Thema Kindeswohlgefährdung haben die Mediziner schwere Misshandlungsfälle vor Augen, wir schon die Vernachlässigung“, sagt Regina Quapp-Politz vom Jugendamt. Zwei Jahre nach dem Start ist das Team um die Abteilungsleiterin und den Ärztlichen Direktor, Dr. Andreas Oberle, zufrieden mit dem Ergebnis. Im Frühjahr wird das Modell, das bundesweit Anerkennung findet, in der Ärztezeitschrift „Pädiatrische Praxis“ vorgestellt.
Um das Wohl von 26 Kindern war es schlecht bestellt
145-mal hat sich das Kinderschutzteam des Olgahospitals im vergangenen Jahr über Misshandlungs- oder Vernachlässigungsfälle beraten müssen; zur Hälfte waren es Migranten, zur Hälfte Deutsche. In 41 Fällen erwies sich der Verdacht als falsch, in 104 Fällen aber war er begründet.
In dem Fall stellt der Stationsarzt einen Meldebogen aus und unterrichtet das Kinderschutzteam. Das Team muss sich nun darüber austauschen, in welcher Form das Kind gefährdet ist, wie dies künftig ausgeschlossen werden kann, welche Hilfen für Kind und Eltern geeignet sind. Am Ende des Jahres 2012 konnte das Team in 34 Fällen den Meldebogen wieder ad acta legen, in 44 Fällen galt eine Kindeswohlgefährdung als nicht ausgeschlossen.
Um das Wohl von 26 Kindern war es schlecht bestellt. So beispielsweise bei einem vier Monate alten Kind, das mit einer Harnwegsinfektion aufgenommen wird. Der Kopf ist an einer Stelle vom Liegen deformiert, am Po kleben Kotreste, die Hautfalten sind unsauber. Noch während der Aufnahme verschwindet die Mutter, Absprachen und Termine hält sie nicht ein. Um das Kind kümmert sie sich nur, wenn sie aufgefordert wird, Fragen nach ihrer Familie beantwortet sie nicht. Klarheit gibt es erst nach dem Gespräch mit dem Team: Die Frau lebt im Haushalt ihrer Eltern und hat zwei weitere Kinder unter sechs Jahren. Sie hat keinen Schulabschluss, überlässt die Kinder vor allem der Oma. Auf Hilfsangebote lässt sie sich jedoch gern ein, auch beim Beratungszentrum in ihrem Stadtteil.
Das Kinderschutzteam schließt den Fall schriftlich ab, die Dokumentation geht sowohl der Station am Olgäle als auch dem Beratungszentrum am Wohnort zu. „44 der Meldebögen von den Stationsärzten wurden ausgestellt, weil ein Kind so wie dieses vernachlässigt worden ist“, sagt Quapp-Politz. Bei 27 Kindern bestätigte sich der Eindruck, dass die elterliche Sorge „erheblich eingeschränkt“ war. Das kann sich durch ein besonders dickes Kind bemerkbar machen und durch fürchterlich schlechte Zähne, weil ein Kind völlig ohne Regeln aufzuwachsen scheint oder wenn Säuglinge beim Weggehen von Vater oder Mutter nicht protestieren. Mehr als 90 Prozent der Eltern haben die Hilfsangebote erleichtert angenommen.
Übers Jahr steht das Jugendamt mit gut 10.000 Haushalten in Kontakt
Weder am Olgäle noch stadtweit ist Kindesmisshandlung ein Massenphänomen, aber jeder einzelne Fall ist schmerzlich. Übers Jahr steht das Jugendamt mit gut 10.000 Haushalten in Kontakt; in 973 Fällen handelte es sich um Kindesmisshandlungen und Vernachlässigungen. Und ohne Zweifel gibt es eine große Dunkelziffer.
An der trägt ausgerechnet das Sozialgesetzbuch Schuld. Dort ist in § 294 a geregelt, dass „drittverursachte Schäden“ vom Verursacher selbst zu zahlen sind. In diesem Zusammenhang heißt das: Wer sein Kind vernachlässigt und misshandelt, muss für die Behandlungskosten selbst aufkommen. Schreibt ein Arzt also in seinen Bericht, der kleine Patient sei misshandelt worden, kann die Krankenkasse die Kostenübernahme verweigern.
„Die AOK Baden-Württemberg übernimmt die Kosten für die Behandlung und prüft anschließend, ob sie diese vom Verursacher der Misshandlung zurückfordern kann“, sagt der Pressesprecher der Krankenkasse. Die Landesärztekammer fordert schon lange 14 weitere Kinderschutzambulanzen an den Kinderkliniken. SPD-Sozialministerin Karin Altpeter lehnt diesen Wunsch seit einem Jahr ab.
In Anbetracht der harten Fronten zahlt die Stadt Stuttgart die Personalkosten aus eigener Tasche. An Krankenhausbürgermeister Werner Wölfle haben Jugendamt und Ärzte deshalb den Wunsch herangetragen, er möge sich für eine andere Regelung einsetzen. Immerhin könne das Kinderschutzteam bald auch mit der Frauenklinik zusammenarbeiten und auf diese Weise Misshandlungen oder Vernachlässigungen von vornherein verhindern. Im Februar beschäftigt sich der Gemeinderat mit dem Thema.