In den Sommermonaten der Jahre 1894 bis 1896 zog sich Gustav Mahler in sein "Schützelputz-Häusel" in Steinbach am Attersee zum Komponieren zurück. Foto: ULLSTEIN/SIEPMANN

Zu Gustav Mahlers Geburtstag haben wir sein Sommerdomizil in Österreich besucht.

In einem Komponierhäuschen am Attersee im Salzkammergut schrieb der junge Gustav Mahler Sinfonien und Lieder. Zu seinem 150.Geburtstag haben wir sein Sommerdomizil besucht.

Salzburg: der Bahnhof ein großes Loch, in dem die Lebenszeit der Reisenden verschwindet. Bauarbeiten an der Strecke Salzburg–Linz sind nicht zu sehen, unsichtbar bleiben die Bahnarbeiter – sie sind eine Durchsage. Der Mahler-Freund nähert sich im Regenmonat Mai dem Sommerdomizil des Komponisten, 99 Jahre nach dessen Tod. Mahler kam mit der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn und nahm das Dampfschiff nach Steinbach, die Uferstraße von Weyregg nach Steinbach gab es noch nicht. Am Landesteg erinnert ein Gedenkstein an seinen Aufenthalt. Die Sommer der Jahre 1893 bis 1896 verbringt Gustav Mahler, Erster Kapellmeister am Hamburger Stadttheater, in Seefeld am Attersee, Ortsteil der Gemeinde Steinbach, Polizeibezirk Vöcklabruck, Bundesland Oberösterreich, Landschafts- und Kulturraum Salzkammergut, regenreich.

Mahler bezieht mit Justine, Emma und Otto, seinen jüngeren Geschwistern, für deren Ausbildung er nach dem Tod der Eltern sorgt, fünf Räume im Parterre und in der Etage mit Küche und eigener Terrasse im Gasthof zum Höllengebirge am Ostufer des Sees. Die Bratschistin Natalie Bauer-Lechner, eine Mahler-Freundin, hütet die Stille, derer ein Genie in seiner Komponierstubeneinsamkeit bedarf, und schreibt Tagebuch.

Im Frühjahr 1894 lässt Mahler ein Komponierhäuschen am Seeufer errichten. Dort komponiert er große Teile der 2. Sinfonie und die 3. Sinfonie, mit etwa 95 Minuten Aufführungsdauer eine der längsten des Genres. Mahler wiederholt dieses Modell, doch weder das „Häusel“ in Maiernigg am Wörthersee noch das bei Toblach/Dobbiaco im Pustertal reicht an den Prototyp heran.

Von Vöcklamarkt fährt ein mit Schulkindern, vornehmlich Mädchen, überfüllter Triebwagen der Attergaubahn (1913 eröffnet) auf schmaler Spur (1 m) über hahnenfußgelbe, wellige Wiesen ohne Kühe. 13,4 Kilometer bis zur Endstation Attersee. Holzbänke, Messing, Velours in 80er-Jahre-Orange. Steinbach liegt auf der anderen Seite, am Ostufer. Einmal um den halben See mit Attersee-Taxi von Rudolf Gebetsroither, 25 Kilometer sind es bis zum Gasthof Föttinger.

Franz Föttinger erzählt von einem, den einige hier den „Wahnsinnigen“ nennen. Friedrich Gulda, weltberühmter Klavierspieler, lebte von 1962 bis zu seinem Todestag am 27. Januar 2000 in Weißenbach am Attersee. „Gulda hatte sein Grab auf dem Zentralfriedhof in Wien. Aber wir haben gesagt, die Leich geben wir nicht her.“ Zu Fuß sind es 30 Minuten zum Steinbacher Dorffriedhof.

Der Panoramaweg führt durch den tropfnassen Buchenwald. Kühe in Halbtrauer auf Wiesen am Hang. Gulda hat sein Grabdenkmal („bei der Leichenhalle“) selbst entworfen. Inspiriert von den Wiener Secessionisten: Eine steinerne Weltkugel, von einem Bogen überspannt, güldene Notenlinien streben hinauf zu einer Sonne aus Gold mit Strahlen wie stilisierte Flammen. In Stein gefasste, blumengeschmückte Gräber, alles blitzblank.

In der Pfarrkirche zum Heiligen Andreas ist die Kinderbelehrstunde aus. In drei Tagen feiern sie ihr „Zügenglöcklein“, die kleine Totenglocke, die vor 600 Jahren (1410) gegossen wurde, mit 25 kg geradezu federleicht. Glocken läuten auch in Mahler-Sinfonien. Bim-bam macht der Knabenchor zum Kuhglockengebimmel in der monumentalen Dritten.

Auf dem Rückweg stehen Wiesen unter Wasser. Ein Feuersalamander tapert über rote Erde im österreichischen Regenwald. Auf der Attersee-Tourismusmappe ist der Himmel notorisch blau.

Viele Gäste wollten am Gulda-Tisch im Stüberl essen, erzählt Föttinger. Gulda kam jede Woche mit dem roten Ferrari vorbei, aß Tafelspitz mit Kren und Apfelmus und hantierte mit zwei Mobiltelefonen zugleich. „Nähergekommen bin ich ihm über ein Glas Rotwein oder das Bild einer schönen Frau.“ Gulda kommt Mahler in die Quere. Lieben tun sie ihn noch immer nicht. Sie haben sein Grab (und die Touristen). Franz Föttinger hat ein Gulda-Porträt mit Widmung von der Hand des unbotmäßigen Meisters. Für die Mahler-Liebhaber aus aller Welt gibt es Kaffeehäferl mit dem Konterfei des Komponisten an der Rezeption. Achtung, Fremder: Ein Haferl dient einem anderen Zweck.

Fotografien von Mahler, ein Concert-Piano von K. Schufinsky Niederlage, Baujahr 1888, „mit dem Anhänger von Wien geholt“ – eine Violine verstaubt im offenen Geigenkasten –, Mahler-Bücher auf Tischen, Kopien von Dokumenten suggerieren Musikalität im Haus. Der Genius loci scheint herbeizitiert zu jener „Hebung des Fremdenverkehrs“, den Karl Kraus als idealen Lebenszweck seiner Landsleute diagnostizierte.

Der „Mahler-Typ“ (Föttinger) schläft im „Mahler-Zimmer“: Bewegungsmelder machen ihm Licht. Möbel aus Esche, tiefe Badewanne, ein kunstmalerisches Mahler-Bildnis von 1970, Jagdtrophäen über dem Doppelbett. Berührte Mahler diesen Messingknauf an der alten Tür? Die Linden im Hof standen schon da. Aber kein Echo seiner Anwesenheit, seiner Musik in der Landschaft. Über seine übermenschliche Dritte hatte der Nietzsche-Leser geäußert: „Ein so großes Werk, in welchem sich in der Tat die ganze Welt spiegelt – man ist, sozusagen, selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt.“

Zum Komponierhäuschen. Hinter hohen Hecken gehen Camper vor Anker (150 Stellplätze). Föttingers Gasthaus von einst ist heute ein Activ-Hotel mit Tauchbasis. Der Hausherr öffnet das Häuschen mit einem eisernen Schlüssel. Der Bewegungsmelder startet den CD-Player. Dritte Sinfonie, erster Satz: „Der Sommer marschiert ein“. Da bekämen Besucher nasse Augen. Das chinesische Staatsfernsehen war da. Gerührte und dankbare Besucher tragen sich ins Gästebuch ein. Die „Schausammlung“ wird von der Internationalen Gustav-Mahler-Gesellschaft betreut. Am Klavier (nicht an diesem) entstanden die „Wunderhorn-Lieder“ vom „Lob des hohen Verstandes“ oder „Des Antonius’ Fischpredigt zu Padua“. Am 9. Juli 1896 war Mahler „sehr müde von dem vielen Herumkraxeln auf den Bergen und dem Herumradeln heut“. Das „Velocipedfahren“ hatte er 1895 in Hamburg geübt.

Elf Jahre stand Mahlers Zelle leer. Von 1907 an wurden dort Rinder, Kälber, Schweine geschlachtet, das Blut floss in den See. 1932/33 wurde aus dem Schlachthaus eine Waschküche. In den sechziger Jahren ist es eine Bedürfnisanstalt. 1983 wird es renoviert. „Weil es genutzt wurde, ist es noch da“, erklärt der Hotelier. Auf der Bank beim Häusel. Links die Tauchschule. Einige tauchen, Neoprenanzüge hängen an der Wäscheleine. Wassertemperatur elf Grad. Schwalben tauchen in die Luft, nippen am See. Um 15 Uhr mit Föttingers Wassertaxi – Siemens-Schuckert Elektromotor Baujahr 1923, 8 PS – nach Attersee. Dem Baumeister seines Komponierhäusels verriet Mahler: „Der See singt.“ An Bord singt Gulda auf der Musikkassette: „Nur du und i“.