Das NS-Dokumentationszentrum in München Foto: Müller

In München, der „Hauptstadt der Bewegung“, dauerte es 70 Jahre, seit die US-Truppen am 30. April 1945 die Stadt einnahmen, bis nun das Dokumentationszentrum zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit eröffnet werden konnte. Entstanden ist ein betont offenes Haus.

München - Der weiße Kubus steht an der Brienner Straße auf den Ruinen des „Braunen Hauses“. Dort, wo der Aufstieg der verbrecherischen Nazibewegung begann. Ein geschichtsträchtiges Haus ist es sowieso, ein lebendiges, offenes Haus soll es werden. Ein Erinnerungs-, Gedenk-, Informations-, Lern-, Forschungs-, Diskussions- und Ausstellungsort.

In diesem Areal stellte sich die Wittelsbacher Monarchie über Jahrhunderte als Kunststadt dar. Im November 1918 ergab sie sich den Revolutionären von Kurt Eisner, die im Mai 1919 von den Freikorps und Regierungstruppen, durch reaktionäre, antisemitische, nationalistische Kräfte brutal weggefegt wurden. Hitler kam 1913 nach München, schloss sich 1919 der DAP, später NSDAP, an. Die bankrotte Partei wurde durch Hitlers Kontakte zu reaktionären, großbürgerlichen Kreisen – stellvertretend Elsa Bruckmann und Ernst Hanfstaengl – gerettet. Am 9. November 1923 scheiterte vor der Feldherrnhalle die Machtübernahme der Braunen.

Von diesen Schichten seiner Geschichte „der nördlichsten Stadt Italiens“, Thomas Manns „leuchtender Stadt“ erzählt die Umgebung des weißen Würfels. Im Norden die Technische Universität, die Musikhochschule, die diversen Pinakotheken, das Ägyptische Museum, das München der Wissenschaften und Museen. Im Westen der Königsplatz, wo der Hofarchitekt Leo von Klenze der Vision seines Königs Ludwig I., dessen „Isar-Athen“, Gestalt gab: die Glyptothek, die Antikensammlung, die Propyläen, dahinter die Galerie im Lenbachhaus.

Das ehemalige Palais Barlow, 1930 von der NSDAP erworben, wurde vom Nazi-Architekten Paul Ludwig Troost zum „Braunen Haus“, der NSDAP-Parteizentrale, umgebaut. 50 Grundstücke, Immobilien der umliegenden Max-Vorstadt, wurden für die zentralen NS-Organisationen aufgekauft, enteignet. Direkt davor an der Arcisstraße der „Führerbau“, heute Musikhochschule, der „Verwaltungsbau“, heute Haus der Kulturinstitute. Links und rechts der Einmündung der Brienner Straße in den Königsplatz die sogenannten Ehrentempel für die „Gefallenen der Bewegung“, des Putsches 1923. 1947 auf Anordnung der Amerikaner gesprengt, ihre Ruinen begrenzen nun den Eingangsbereich des NS-Dok.

Nach 1945 verdrängten die Münchner wie an vielen anderen Orten – etwa Stuttgart mit der Gestapo-Zentrale im Hotel Silber – diese monströse Schicht ihrer Geschichte. Die „Hauptstadt der Bewegung“, wurde „Hauptstadt der Verdrängung“, was der Gründungsdirektor des NS-Dok, Winfried Nerdinger, als „permanente Peinlichkeit“ bezeichnet.

Auf Drängen von Bürgerinitiativen fasste 2001 der Rat der Stadt den Beschluss, am historischen Standort für 30 Millionen Euro und mit einer Nutzfläche von 3000 Quadratmetern das NS-Dokumentationszentrum zu bauen. 20 Personalstellen wurden für den Betrieb vorgesehen.

Neubau und laufende Kosten werden finanziert durch die Landeshauptstadt München, den Freistaat Bayern und den Bund. Zum Vergleich: In Stuttgart stehen für das NS-Dok im Hotel Silber ungefähr 30 Prozent der Münchner Beträge zur Verfügung. In München ist das NS-Dok ein selbstständiges Amt wie andere kulturelle Ämter, zum Beispiel Standesamt, im Kulturreferat der Stadt. In München stehen seit 2000 alle Parteien, die Kirchen, die kulturellen Institutionen, die Universitäten, die Bürgerschaft, die Medien voll hinter dem Projekt. Ja, von der Behandlung dieses Themas in München können wir in Stuttgart nur träumen.

Nach dem Beschluss des Münchner Rats 2001 vergingen acht Jahre, bis die Planung, die Finanzierung und die Nutzungskonzeption des NS-Dok standen. Den bundesoffenen Architekten-Wettbewerb 2009 gewannen die Berliner Architekten Georg – Scheel – Wetzel, die auch den Realisierungsauftrag erhielten. Dann ging es zügig weiter bis zur Eröffnung vor wenigen Tagen, am 30. April.

Klar war allen Beteiligten: Es ist eine enorme Herausforderung, auf diesem durch die Geschichte und die städtebauliche Lage sensibilisierten Ort dieses heikle Thema zu planen.

Der selbstbewusste, autonome, schneeweiße Würfel des NS-Dok bringt zeichenhaft den Ort der Täter für uns, für die folgenden Generationen, einprägsam und unverwechselbar zum Ausdruck. Ohne dabei Schwellenängste aufzubauen. Der Bruch mit der unheilvollen Geschichte des Standortes wird deutlich interpretiert, jedoch durch das selbstbewusste, kontrastierende Setzen eines neuen Ortes enorm bereichert.

Weißbeton im Inneren und Äußeren als prägendes, dominierendes Material erzeugt überraschende räumliche Qualitäten. Durch zweigeschossige, um den Kern verbundene, versetzte Lufträume entsteht ein über alle Geschosse fließender, vertikaler Raum. Damit wird die Identität des Raumwollens unterstrichen. Zugleich schafft dies glänzende Voraussetzungen für die Führung der Besucher, für die Benutzbarkeit als Ausstellungs- und Informationswelt.

Der Weg durch die didaktisch hervorragende und rigorose Ausstellungskonzeption führt von oben nach unten, sie spannt den Bogen vom Ersten Weltkrieg über den Aufbau und Einsatz der Terrorinstrumente, den Zweiten Weltkrieg, die Verdrängung danach, die Nicht-Auseinandersetzung mit der NS-Zeit bis heute, mit Ausblick in die Zukunft.

Beim Rundgang werden über versetzte, wechselnd an den Gebäudeecken angebrachte Öffnungen überraschende Ausblicke, Sicht- und Bedeutungsbezüge in die nähere und weitere Umgebung angeboten. Angesprochen wird der Dialog mit den NS-Bauten, mit dem Königsplatz und dessen klassizistischen Bauten, mit der Universität, mit den bekannten und jüngsten Museen. Vergangenheit, Gegenwart und auch Zukunft werden erlebbar.

Es ist den Architekten gelungen, die hohen städtebaulichen, architektonischen, inhaltlichen und funktionalen Anforderungen in einem in jeder Hinsicht überzeugenden Bau zu realisieren. Eine übergeordnete, selten anzutreffende Einheit ist entstanden, ein Beitrag zur Identität der Stadt. Nun hat München einen Ort, an dem seine „besondere Rolle“, auch seine „spezifisch historische Rolle und Schuld“ vor, während und nach der Nazizeit untersucht, dokumentiert, ausgestellt werden kann. Damit wird auch das aktuelle Selbstverständnis Münchens als „Weltstadt mit Herz“, als Stadt des Schönen, als Stadt der Künste berührt und verändert. München gewinnt mit dem NS-Dokumentationszentrum eine neue Dimension.

Der Architekt Roland Ostertag lebt und arbeitet in Stuttgart.