Porsche-Chef Matthias Müller steigt noch weiter auf. Foto: dpa

Am Ende ging alles sehr schnell: Noch vor wenigen Tagen schien klar, dass Martin Winterkorn jahrelang VW-Chef bleibt. Nun muss Porsche-Chef Müller schnell die Koffer packen.

Stuttgart - Dass bei Porsche-Chef Matthias Müller die Drähte glühen, konnte unsere Zeitung bereits am Mittwochmorgen beobachten: Um 8.52 Uhr schickten Müllers Mitarbeiter eine E-Mail, in der sie zusagten, dass Müller an einer redaktionellen Veranstaltung teilnehmen will, zu der er eingeladen war. 35 Minuten später, um 9.27 Uhr, folgte die Mitteilung, dass eine Teilnahme nun doch nicht möglich sei. Ein Grund wurde zunächst nicht genannt – womöglich ist Müller in diesen Minuten klar geworden, dass seinen Kalender als Porsche Chef bald zuklappen und sich viele Termine für eine neue Aufgabe freihalten muss.

Nur 30 Stunden später ist es dann praktisch Gewissheit: Der Aufsichtsrat hat sich auf Müller als Nachfolger des zurückgetretenen VW-Chefs Martin Winterkorn verständigt, berichtet die meist gut informierte Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf Insider. Der 62-Jährige steigt damit in den Olymp des gegenwärtig größten Autoherstellers der Welt auf – und damit in eine Rolle, die er zunächst gar nicht angestrebt hatte. Noch vor zwei Jahren antwortete er im Interview unserer Zeitung auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, Nachfolger Winterkorns zu werden: „Ein klares Nein. Erstens stellt sich die Frage nicht, und ich fühle mich bei Porsche pudelwohl. Zweitens würde ich mir diese Aufgabenstellung nicht zutrauen – es hat schon seinen Grund, dass ich ein kleines Unternehmen führe und Herr Winterkorn einen riesigen Konzern. Und drittens bin ich bereits 60 und dann für eine Nachfolge schlicht zu alt. Da müssen schon Jüngere ran.“

Unter Winterkorn ist der Konzern große geworden – aber auch fast unführbar

Doch irgendwann in den zwei Jahren, die seither vergangen sind, muss er dann doch Gefallen an dem Gedanken gefunden haben, doch noch mal etwas anderes zu machen und vielleicht ganz oben anzukommen. „Ich bin für nichts zu alt“, sagte er im März beim Autosalon in Genf. Nun wird er reichlich Gelegenheit haben, diese Aussage zu belegen. Die Aufgaben sind immens, denn beim VW-Konzern, der 30-mal so viele Mitarbeiter beschäftigt wie Porsche, hat sich großer Reformbedarf angestaut. Dank der Strategie Winterkorns, der inzwischen zwölf Marken unter einem Konzerndach versammelt, ist der Konzern so stark gewachsen, dass im vergangenen Halbjahr kein Autohersteller weltweit mehr Fahrzeuge verkauft hat als die Wolfsburger. Die einzelnen Marken sind dabei engstens miteinander verzahnt – sie stimmen Technologien, Modellpaletten, Ausstattungen und Markteinführungen eng miteinander ab. Das spart Kosten, weil viele Teile und Entwicklungen markenübergreifend genutzt werden können. Doch immer deutlicher zeigen sich die Schattenseiten: Es bindet auch enorme Kräfte – so viele, dass der Konzern den bisherigen Chef Martin Winterkorn offensichtlich aus dem Ruder gelaufen ist. Müllers Aufgabe wird es sein, den ganz auf die Person Winterkorn zugeschnittenen Konzern wieder führbar zu machen – auch dadurch, dass nachgeordneten Ebenen wieder mehr Entscheidungsspielraum gegeben wird.

Gegenüber der ganz auf die Person Winterkorn zugeschnitten Führungskultur ist dies eine völlige Kehrtwende. „Wir brauchen für die Zukunft ein Klima, in dem Probleme nicht versteckt, sondern offen an Vorgesetzte kommuniziert werden. Wir brauchen eine Kultur, in der man mit seinem Vorgesetzten um den besten Weg streiten kann und darf“, sagt etwa Konzernbetriebsratschef Bernd Osterloh.

Selbst wenn dieser Umbau in geordneten Verhältnissen stattfinden würde, wäre die Aufgabe immens. Doch er vollzieht sich gewissermaßen in einer brennenden Hütte und zudem unter hohem Zeitdruck. Schon lange läuft VW ausgerechnet in den USA, einem der wichtigsten Automärkte der Welt, die Zeit davon – die Konkurrenz eilt den Wolfsburgern davon, die so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie frühestens 2017 mit einem eigenen Modell auf den dortigen Trend hin zu schweren Geländewagen reagieren können. Doch ausgerechnet in den USA hat der Skandal um die manipulierten Abgasmessungen bei Dieselfahrzeugen das Vertrauen in die Marke schwer beschädigt. Zudem wird Volkswagen in den kommenden Jahren vermutlich von Anwälten, Anklägern und Autobehörden in aller Welt gequält werden; und jedes Mal wird das Diesel-Desaster wieder international in die Schlagzeilen kommen. Womöglich wird Müller sogar vor dem US-Kongress antreten und sich stundenlang aggressiven Fragen der Abgeordneten stellen müssen – live und in Farbe.

Müller wird starke Nerven und Gelassenheit brauchen – beides hat er

Kurz, VW braucht einen Chef mit starken Nerven und viel Gelassenheit. Davon jedoch besitzt Müller reichlich. Mit seiner ruhigen, unaufgeregten Art und seinem bayerischen Zungenschlag wirkt er souverän und erweckt den Eindruck, als habe ihn noch nie etwas aus der Ruhe gebracht.

Doch kann einer, der heute gerade einmal gut 20 000 Mitarbeiter führt, auf einen Schlag auch einen Konzern mit 30-mal so vielen Beschäftigten leiten? Müller ist das zuzutrauen – und das nicht nur, weil er fast sein ganzes Berufsleben im VW-Konzern zugebracht hat. Bevor er 2010 Porsche-Chef wurde, steuerte er bereits die gesamte Produktstrategie des Konzerns und kennt sich damit daher mit dem Management der einzelnen Marken bestens aus. Hinzu kommt, dass er einerseits klare Vorstellungen hat und doch flexibel auf Anforderungen des Konzerns eingehen kann. So ging er den von Winterkorn vorgegebenen Weg mit, die Marke Porsche nach unten zu öffnen und dadurch die Absatzzahlen in die Höhe zu treiben – und setzte zugleich mit Modellen wie dem Hybridfahrzeug 918 Spyder, der 887 PS auf die Straße bringt, drei Liter Benzin verbraucht und um die 800.000 Euro kostet, ein klares Signal der Eigenständigkeit von Porsche. Auch seinen Plan, den Standort Zuffenhausen durch Investitionen in Milliardenhöhe zu einem Flaggschiff unter den Standorten im Konzern auszubauen, zeugt davon, dass Müller Konzerndisziplin und ein klares eigenes Profil unter einen Hut zu bringen weiß.

Gerne wird man in Wolfsburg auch hören, welche Aussagen er vor zwei Jahren zu seiner Strategie bei Porsche gemacht hat: „Jetzt konzentrieren wir uns wieder ganz auf die Produkte“, sagte er, nachdem Porsche zuvor jahrelang Gegenstand der Übernahmeschlacht um VW und danach Objekt zahlreicher Gerichtsverfahren gewesen war. „Die Mitarbeiter haben das dankbar angenommen, weil sie sich am liebsten darum kümmern, erfolgreiche Autos zu bauen.“ Den VW-Mitarbeitern, die nun ebenfalls ohne eigene Schuld zu einem skandalgeschüttelten Unternehmen gehören, dürfte er damit aus dem Herzen gesprochen haben.