David Oyelowo verschmilzt ­mit Martin Luther King, verleiht dessen legendärer Redekunst inbrünstige Schlagkraft und hätte eine Oscar-Nominierung verdient gehabt Foto: Studiocanal/Atsushi Nishijima

Dr. Martin Luther King jr. führte in Alabama die pazifistischen Protestmärsche von Selma nach Montgomery an und seine Nation schließlich zum „Voting­ Rights Act“, der das US-Wahlrecht erneuerte, welches Schwarze diskriminierte. Ava DuVernay erinnert in ihrem Film „Selma“ an den großen Bürgerrechtler.

Stuttgart - Die Menschheit muss drei große Herrschaften der Ungerechtigkeit niederringen: jene des Standes, der Rasse und des Reichtums. Während vor allem letztere pervertierter denn je zu regieren scheint, schwand mancherorts zumindest die Wahnvorstellung der durch Hautfarben begründeten Ungleichheit. Auch dank Dr. Martin Luther King jr. (David Oyelowo, „Lincoln“), einem der wichtigsten Bürgerrechtler des vergangenen Jahrhunderts.

Ava DuVernay setzt mit „Selma“ nicht nur King, sondern allen couragierten Aktivisten ein gefühlvolles Denkmal, das Fakten und Emotionen gleichermaßen betont. Folglich befindet sich nicht der Held, sondern der Mensch im narrativen Zentrum. Inmitten seiner ebenfalls aufbegehrenden Kollegen und Freunde sieht man King scherzend. Äußert seine Frau Coretta (Carmen Ejogo) gerechtfertigte Sorgen ob seiner lebensgefährlichen Schlüsselrolle, reflektiert und zögert er. Dies unterschlägt der Film nicht: Die Frauen standen zwar selten im Rampenlicht, jedoch stets hinter ihren Männern.

Selbige sind zu Beginn der Erzählung bereits ein eingespieltes Team bei der „Southern Christian Leadership Conference“. Sie taktieren und wählen bewusst den Standort Selma. Dort sind nur zwei Prozent der schwarzen Bevölkerung als Wähler registriert, rassentrennendes Gedankengut wuchert. Zum Glück wusste der Baptistenpastor King um die Macht der Medien. Das zeigt DuVernay mit einem cleveren Kontrast: wie sein Konterpart George Wallace (mit überzeugend kaltem Hass: Tim Roth), der rassistische Gouverneur Alabamas, so kalkuliert auch King: Fernsehübertragungen machtmissbrauchender, weißer Polizisten, die friedliche Demonstranten blutig schlagen und, besonders zynisch und brutal, mit Peitschen jagen, würden die Gesellschaft wachrütteln.

Die Exekutive in Gestalt der Polizei kommt bereits optisch äußerst unsympathisch daher, mimisch eher schweinegleich. Man kehrt das Innere dieser Figuren nach außen. Doch anders als der scheinbar übermächtige, selbstgefällige Gegner, wägt King jedes Manöver ab. Er opfert niemanden und leidet selbst am meisten, als am 18. Februar 1965 der 26-jährige Diakon Jimmie Lee Jackson erschossen wird. Ein Knackpunkt, so erzählt es „Selma“, der die Bewegung ebenso gut hätte beenden können, wie er sie befeuert hat.

Besonders reizvoll inszeniert DuVernay das Tête-à-Tête zwischen King und Kennedy-Präsidentennachfolger Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson). Nicht nur, weil bei der Auseinandersetzung zwischen David Oyelowo und Wilkinson Funken sprühen ob der entstehenden Reibung, die aus beiden die Höchstform kitzelt. DuVernay lässt Johnson weniger aus Überzeugung agieren, er scheint eher am Eintrag ins Geschichtsbuch interessiert zu sein. Und die Bundespolizei FBI hatte damals schon die Finger im Spiel und die Lauscher an der Leitung: Der Direktor des Geheimdiensts, J. Edgar Hoover (Dylan Baker), hört King und lehnt ihn als politisch und moralisch verkommen ab.

Meinungsverschiedenheiten sorgen auf beiden Seiten für Unruhe: Hoover, Johnson und Wallace kollidieren als weiße Machthaber miteinander, die Beziehung zwischen King und dem radikaleren Malcom X klammert der Film größtenteils aus.

„Selma“ hat am Sonntag die theoretische Chance, zwei Oscars zu gewinnen – in den Kategorien Bester Film und Bester Originalsong. Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences berücksichtigte David Oyelowo als Hauptdarsteller nicht. Das bewässerte die Mühlen jener, die die Akademie Jahr um Jahr des Rassismus bezichtigen – obwohl 2014 das Sklavendrama „12 Years A Slave“ den Oscar für den besten Film bekam und zwei weitere Auszeichnungen.

Tatsächlich wäre eine Nominierung angebracht gewesen. Oyelowo hat sich nicht nur die optische Ähnlichkeit angefuttert, er verschmilzt auch spielend mit Martin Luther King. Dessen legendärer Redekunst verleiht er eine solch inbrünstige Schlagkraft, dass der heutige Kongressabgeordnete und Kings ehemaliger Wegbegleiter John Lewis ihn am Set begrüßte mit den Worten: „Dr. King, lange ist es her.“

Dabei erscheint die Besetzung zunächst kontraintuitiv: Der gebürtige Oxforder Oyelowo wuchs in Nigeria und England auf, erst 2007 zog er in die Staaten. Umso beeindruckender, wie lebensecht er den US-amerikanischen Menschenrechtskämpfer verkörpert. „Der King lebt“, könnte man meinen.

Dank mannigfaltiger Feinheiten avanciert „Selma“ Minute um Minute zum ergreifenden Kino mit dokumentarischem Wert. Originalschauplätze und Gospel evozieren Authentizität wie auch historisch belegte Ereignisse, mittels Bauchbinden als solche deklariert. Gerade jetzt, da in den USA vermehrt über Tötungen von Afroamerikanern durch Polizistenhände berichtet wird und hierzulande Protestmärsche in die völlig falsche Richtung wabern, brauchte es einen solchen Film.

Der Film startet an diesem Donnerstag. Er ist ab zwölf Jahren freigegeben und läuft in Stuttgart in den Kinos Atelier am Bollwerk und Metropol.