Penélopez Cruz als liebende, verzweifelte Mutter – eine wahre Paraderolle. Foto: prokino

Penélope Cruz spielt eine unkonventionelle Mutter, die im Rom der siebziger Jahre aus der Enge ihrer Ehe auszubrechen versucht.

Von außen betrachtet scheint alles perfekt zu sein. Familie Borghetti lebt in einem Neubaukomplex in Rom. Im obersten Stockwerk haben Clara (Penélope Cruz), Felice (Vincenzo Amato) und deren drei Kinder freien Blick auf den Petersdom. Eine Familie aus der gehobenen römischen Mittelschicht. In den ersten Szenen wirkt Clara frei. Sie tanzt mit ihren Kindern zu lauter Musik durch die Wohnung. Wie mit einstudierter Choreografie werfen sich die vier die Teller in die Hände und wirbeln singend durchs Esszimmer, bis der Tisch gedeckt ist. Euphorie, Lebensfreude, ausgelassener kindlicher Lärm, all das verschwindet, als der Vater am Abendbrottisch Platz nimmt. Dann ist da nur noch: Stille.

Die Liebe zwischen Clara und Felice ist lange schon erloschen. Felice flüchtet sich in Arbeit und in Affären mit anderen Frauen. Clara in die Liebe zu ihren drei Kindern. Nur die können ihre Einsamkeit in der Enge dieser eigentlich so schick eingerichteten, weitläufigen Wohnung auffangen. Und die wiederum haben ihre eigenen Strategien, mit der angespannten Stimmung ihrer Eltern umzugehen. Die Kleinste verweigert das Essen, während der Mittlere alles in sich hineinstopft. Die älteste Tochter Adriana (Luana Giuliana) hat mit ganz anderen Problemen zu kämpfen und hadert mit ihrer Geschlechtsidentität. Vor Fremden gibt sie sich längst als Junge aus.

Die Männer geben den Ton an

„L’immensità – Meine fantastische Mutter“ ist der erste Kinofilm von Emanuele Crialese seit seinem Erfolg mit „Terraferma“. Der italienische Filmemacher zeichnet das authentische Bild eines Italien der Siebziger. Hier trifft eine bunte, freie Welt auf veraltete Familienmodelle, die es vor allem Frauen unmöglich machen auszubrechen. Noch immer geben die Männer den Ton an. Ähnlich wie die Kirche, deren Einfluss auf die Familien der siebziger Jahre in vielen Zeichen durchscheint. Etwa als Adriana Hostien aus der Kirche klaut und sich, auf Gottes Hilfe hoffend, so viele davon in den Mund legt, bis sie zu ersticken droht. Und auch der allgegenwärtige Blick aus dem Hause Borghetti auf den Petersdom ist nicht nur als Zeichen des Wohlstands zu verstehen.

Penélope Cruz ist in ihrer Darstellung der zerrissenen Clara eine Wucht. Verzweifelt versucht sie, ihren Kindern trotz der Umstände und im Angesicht ihres eigenen Unglücklichseins eine schöne Kindheit zu ermöglichen. Sie legt sich zu ihnen ins Bett, bis sie eingeschlafen sind, sie albert derart mit den Sprösslingen herum, dass auf Familienfesten nur mit dem Kopf geschüttelt wird. Und vor allem hält sie zu Adriana, während die sich immer unwohler in ihrem Körper fühlt. „Mama und Papa, ihr habt mich falsch gemacht. Ich bin nicht Adriana. Ich bin aus einer anderen Galaxie“, sagt sie an einer Stelle des Films. Viel besser kann in einem Film Transidentität wohl nicht beschrieben werden.

Die Tochter sieht die Traurigkeit der Mutter

Die Beziehung zwischen Adriana und ihrer Mutter ist zentral in Crialeses Film. Die beiden verbindet nicht nur, aber auch das Gefühl, fehl am Platz zu sein – die aus Spanien stammende Clara mit ihrer ausgelassenen, unkonventionellen Art fehl am Platz in den starren Regeln der gehobenen italienischen Mittelschicht und Adriana fehl am Platz im eigenen Körper. Giuliana verleiht ihrer Rolle dabei neben all der Verletzlichkeit auch etwas Kämpferisches. Sie will für sich einstehen, genauso wie für ihre Mutter, deren zunehmende Traurigkeit sie mit ihren zwölf Jahren mindestens erahnen kann.

Höhepunkte und überraschende Wendungen dürfen von „L’immensità“ nicht erwartet werden. Vielmehr springt der Film mitten in das Leben dieser Familie und begleitet ihre Mitglieder beim Bewältigen des Alltags.

Die Suche nach einem Ausweg

Die Stärke des Films liegt vielmehr darin, verschiedenste Stimmungen zu erzeugen. Schicke Autos, Familienzusammenkünfte am Meer, opulente Weihnachtsdinner der feinen römischen Gesellschaft – Crialese schafft es, mit starken Filmbildern das Lebensgefühl der Zeit zu transportieren. Eine Postkartenidylle, die jedoch nur funktioniert, wenn jeder seine Rolle spielt. Clara und Adriana tun das nicht.

Es ist dann auch das Weihnachtsdinner, das zeigt, wie sehr Clara nach einem Ausweg sucht. Aus Albernheiten einer liebenden Mutter werden Verzweiflungstaten. Als sie während des Essens zu den Kindern unter den Tisch kriecht, ist für Adriana eine Grenze erreicht: „Du kannst nicht mit uns spielen. Du bist eine Erwachsene!“ Der Zusammenbruch ist nicht mehr fern.

„Unendlichkeit“ heißt der Filmtitel ins Deutsche übersetzt. Und das klingt in dem Zusammenhang mehr bedrohlich als beruhigend.

L’immensità: Italien/Frankreich 2023. Regie: Emanuele Crialese. Mit Penélope Cruz, Luana Giuliani, Vincenzo Amato. 97 Minuten. Ab 12 Jahren

Ein persönlicher Film

Der Regisseur
Der italienische Drehbuchautor und Regisseur Emanuele Crialese ist 1965 in Rom geboren. In seinem letzten Film „Terraferma“ hat er sich mit der italienischen Flüchtlingspolitik beschäftigt. Bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2011 gewann er dafür den Spezialpreis der Jury. Bei der Premiere von „L’immensità“ gab er an, selbst ein transsexueller Mann zu sein.

Die Hauptdarstellerin
Die spanische Schauspielerin Penélope Cruz kam 1974 in der Nähe von Madrid zur Welt. Einem großen Publikum wurde sie durch ihre Rolle in Pedro Almodóvars Oscar-gekröntem Film „Alles über meine Mutter“ bekannt. Sie stand in zahlreichen Filmen Almodóvars vor der Kamera. Für ihre Rolle in Woody Allens „Vicky Christina Barcelona“ bekam sie 2008 einen Oscar als beste Nebendarstellerin.