Farbod (Hossein Soleimani) muss beweisen, dass er normal ist – trotz Tattoos. Foto: Neue Visionen Filmverleih

In den elf absurden Episoden ihres Meisterwerks „Irdische Verse“ enthüllen die Filmemacher Ali Asgari und Alireza Khatami, wie treue Mullah-Bürokraten Bürger drangsalierten.

Selena mag Micky Maus und Popmusik. Während ihre Mutter im Laden nach einer erträglichen Abaya und passendem Hidschab fahndet, probt die Kleine mit Kopfhörern auf den Ohren eine coole Choreografie. „Sie mag nur fröhliche Farben“, seufzt die Mutter unsichtbar aus dem Off. „Das ist aber doch ein schönes Silbergrau“, antwortet ihr die ebenfalls unsichtbare Verkäuferin. Kurz darauf ist Selena bis zur Unkenntlichkeit von Stoffbahnen verhüllt. „Wenn du das so hübsch findest, warum trägst du es dann nicht?“, fragt sie mit entwaffnender Logik.

In „Irdische Verse“ beobachten die iranischen Filmemacher Ali Asgari und Alireza Khatami Menschen in irrwitzigen Alltagssituationen, einen Mann etwa, der sich einem Standesbeamten vorstellt, um seinen neugeborenen Sohn anzumelden. „Wie soll das Kind denn heißen?“, will eine Stimme wissen, während der Mann schüchtern in den engen Bildausschnitt der Kamera blickt. „David!“ sagt er, und lächelt ängstlich. „David? Das geht nicht. Der Name stammt aus einer anderen Kultur“, bekommt er zurück. Dann ist da noch eine junge Frau, die sich vor einer Angestellten des Verkehrsamtes erklären soll. Angeblich ist sie in ihrem Auto ohne Hidschab geblitzt worden. In elf Episoden schildern Asgari und Khatami den alltäglichen, kafkaesken Wahnsinn in iranischen Behörden, wo treue Mullah-Diener ihre erbärmliche Macht ausnutzen, um die Zivilbevölkerung zu schikanieren.

So schlicht der Film gestaltet ist mit seinem Bild-Rahmen, in dem die Figuren eingezwängt sind wie Häftlinge in einer engen Zelle, und den zermürbenden Dialogen zwischen gesichtsloser Autorität und gegängeltem Bürger, so eindrucksvoll demonstriert dieses filmische Gedicht die von Angst und Willkür, aber auch von zivilem Widerspruch geprägte Atmosphäre im Iran nach dem Tod Jina Mahsa Aminis, die nach Gewalteinwirkung durch die iranische Sittenpolizei 2022 verstorben war. In Europa gibt es selten solch tiefe, aktuelle Einblicke in den Iran, weil Kulturschaffende unter ständiger Beobachtung stehen. Umso schöner, dass dieser starke Film hier auf die Leinwände kommt.

Irdische Verse. Iran 2023. Regie: Ali Asgari, Alireza Khatami. Mit Sadaf Asgari, Gohar Kheirandisch. 77 Minuten. Ab 6 Jahren