So stellt sich Architekt Roland Ostertag den Blick von der König-Karls-Brücke nach Süden vor: Beide Neckarufer sind zugänglich, auch rechts vor dem Mineralbad Leuze Foto: Wilhelm Kunz

Seit Jahrzehnten wird in der Region Stuttgart darüber diskutiert, den Neckar wieder zur Lebensader für die Menschen zu machen. Speziell in der Landeshauptstadt ist wenig passiert. Für Architekt Roland Ostertag zu wenig.

Seit Jahrzehnten wird in der Region Stuttgart darüber diskutiert, den Neckar wieder zur Lebensader für die Menschen zu machen. Speziell in der Landeshauptstadt ist wenig passiert. Für Architekt Roland Ostertag zu wenig.
 
Stuttgart - Herr Ostertag, alle paar Jahre treibt die Politik das Thema Neckar durchs Dorf und verspricht, ihn wieder lebenswert und vor allem zugänglich zu machen. Mit wenig Erfolg. Nun haben Sie sich den Fluss der Schwaben vorgenommen. Warum soll das jetzt was werden?
Es stimmt, am Neckar ist lange nichts gemacht worden. Aber der Zeitpunkt ist jetzt günstig. Die Gesellschaft verändert sich so langsam, die Menschen beginnen, ihre Umwelt zu entdecken und zu schätzen und sich über die Geschichte ihrer Umgebung kundiger zu machen. Die Naherholung wird wichtiger. Selbst die Architekten spüren das als Aufforderung, tätig zu werden – da gehören auch der Fluss und die Landschaft dazu.
Außerhalb der Landeshauptstadt hat sich in den vergangenen zehn Jahren einiges getan . . .
. . . aus der Initiative Grünzug Neckartal des Münchener Landschaftsarchitekten mit Ludwigsburger Wurzeln, Hermann Grub, sind prima Sachen herausgekommen. Zwischen Plochingen und Marbach kamen 44 Projekte zustande, oder zumindest sind die Pläne fertig. In Ludwigsburg hat der Gemeinderat alle sieben Projekte beschlossen, und der Oberbürgermeister Werner Spec sagt: „Jawoll, das machen wir!“ Auch außerhalb der Region gibt es spannende Projekte. In Heidelberg wurde die Ufermauer gegenüber dem Schloss entfernt und eine lange Promenade mit Sitzmöglichkeiten angelegt.
Und in Stuttgart?
Da wurde in den vergangenen Jahren lediglich eines von 13 Projekten angegangen, und das war auch nur eine Erweiterung des Biotops Saugraben in Mühlhausen. Ansonsten gibt es noch ein paar kleinere Ansätze etwa in Bad Cannstatt, aber es ist wenig spürbar und komplett gemacht worden. Das ist alles Flickschusterei, eher geeignet, die Trennung des Flusses vom Menschen bewusst zu machen als zu überwinden.
Woran liegt das?
Stuttgart liegt immer noch drei Kilometer entfernt, in einem Seitental des Neckars. Dieser ist erst nach der Eingemeindung Bad Cannstatts 1905 auf Stuttgarter Markung, aber noch nicht im Bewusstsein angekommen. Argumentiert wird immer mit finanziellen Gründen. So heißt das in Stuttgart schon seit Jahrzehnten: Wir haben kein Geld, das machen wir in der Zukunft. Aber dann passiert nichts. Deshalb kamen auch nicht mehr Anträge Stuttgarts auf Zuschüsse aus der Initiative Grünzug Neckartal.
Aber Stuttgart hat sich vor zehn Jahren doch auch der Initiative angeschlossen . . .
. . . aber hier blieb es bei Lippenbekenntnissen, viele Reden wurden gehalten, dann aber nur halbherzige, konzeptionslose Überlegungen zur Annäherung an den Neckar angestellt. Da ging es dann um „Visionen für Mensch und Natur“, aber die Aufzählung von einzelnen Projektchen des Stadtplanungsamts ist keine Vision.
Beim Förderprogramm für einen regionalen Landschaftspark hagelt es aus den Landkreisen drum herum geradezu Anträge, weil viele Kommunen die Chance sehen, mit einem Zuschuss der Region endlich ihre Pläne umzusetzen. Warum will Stuttgart nichts geschenkt?
Der Geist der Stadt ist nicht aufgeschlossen für so etwas, wie den Neckar wieder erlebbar zu machen. Landschaften oder auch denkmalgeschützte Gebäude nimmt man in Stuttgart nicht so ernst. Das liegt daran, dass die Stadt so schnell gewachsen ist. 1850 hatte sie noch 30 000 Einwohner, 1913 schon 300 000. Die Stadt ist durch die Industrialisierung schnell zu Wohlstand und Reichtum gekommen, ein alteingesessenes Großbürgertum, das die Kultur bewahrt und weiterentwickelt, war nur ganz schwach vertreten.
Was war mit denen, die damals zu Wohlstand kamen?
Das waren ganz oft Zugezogene aus der näheren und weiteren Umgebung. Die wollten vor allem am Reichtum teilhaben, die Geschichte und der Geist der Stadt kamen da zu kurz. Ein Beispiel ist das Lusthaus, das Stuttgart bis 1902 als Theater diente. Die Bevölkerung schielte aber nach München, wollte auch ein prächtiges Staatstheater und bekam es 1912. Da war das Lusthaus längst abgebrannt, pünktlich, nachdem es nach einer Abendvorstellung geräumt war . . .
Diese Mentalität soll sich im Jahr 2014 immer noch auswirken?
Der Geist in einer Stadt entwickelt sich ganz langsam. Die Stuttgarter verstehen ihre Stadt auch heute noch weniger als Kulturgut denn als Arbeitsstätte.
Warum sollten sie es dann ihren Nachbarn doch noch nachmachen und den Fluss wieder zu sich holen?
Eben weil die Menschen in vielen Städten Deutschlands die Defizite der misshandelten Flüsse, die während der Industrialisierung regelrecht verwertet wurden, wahrnehmen. Die erholungsuchenden Bürger entdecken die Natur und das Wasser, das früher nur gebändigt werden sollte, wieder als erfreuliche Elemente. Im Ruhrgebiet wurde mit meiner Beteiligung die Emscher vor der Jahrtausendwende vom Abwasserkanal in ein wunderbares Gewässer verwandelt, in Rottweil haben wir vor 30 Jahren entlang des Neckars einen 300 Meter langen Skulpturenpark angelegt, Landschaft und Fluss wieder vereinigt. Auch in Stuttgart könnte man die Uferzone zwischen Untertürkheim und Mühlhausen als Flusserwartungsland mit Fußwegen und Verweilbereichen zugänglich machen und als Parkflächen anlegen. Man könnte die Bundesstraße 14 überdeckeln, wie es für die Olympia-Bewerbung 2012 vorgesehen war, und das Leuze an den Fluss anbinden. Man könnte Blick- und Gehkontakte zwischen Rosensteinpark, Cannstatt und Berg, Gaisburger und Berger Kirche wiederherstellen und vieles mehr . . .
Seit Januar vergangenen Jahres ist mit Fritz Kuhn ein grüner Oberbürgermeister im Amt. Ein Hoffnungsträger für Ihre Pläne?
Ich habe mich mit Herrn Kuhn schon mehrfach ausgetauscht, und er unterstützt die Absicht voll, den Neckar aufzuwerten. Ich habe ihm gesagt, dass er ja kaum wiedergewählt werden kann und deshalb viele Dinge, auch das Thema Neckar, in Bewegung bringen kann (Kuhn wird am Ende seiner Amtszeit 65 Jahre alt sein, mit 68 ist für OBs nach dem Gesetz spätestens Schluss, Anm. d. Red.). Ich bin guter Hoffnung, dass er, wir gemeinsam, den Zugang Stuttgarts zum Neckar vorantreiben werden.
Im vergangenen Jahr wurde im Gemeinderat rege über den Neckar diskutiert. Im Doppelhaushalt 2014/15 ist aber nur Geld für ein paar Kleinigkeiten und weitere Planungen reserviert. Enttäuscht Sie das?
Natürlich. Aber immerhin sind wir mit anderen Engagierten dabei, ein Gesamtkonzept zu entwickeln, wie die Stadt an den Fluss kommt. Das ist endlich ein richtiger Ansatz.