Ganz schön hoch: Reinhard Wolf vor der Gruhe in der Hohewartstraße in Feuerbach Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Auf Spurensuche: In unserer Serie „Stuttgarter Entdeckungen“ wollen wir mit Hilfe unserer Leser Geschichten aufspüren, die in den vielen Winkeln der Stadt verborgen sind. Wir blicken auf Orte, Fassaden, Kulturdenkmäler, die sich nicht auf den ersten Blick erklären. Diesmal: die Gruhen.

Stuttgart - „Nächste Haltestelle: Ruhbank!“ Stadtbahn-Passagiere kennen die Ansage, bevor sie aussteigen und in wenigen Minuten zum Fernsehturm oder zum Gazistadion der Stuttgarter Kickers auf der Waldau pilgern. Benannt ist die Station nach jenem steinernen Bänkchen, an dem die Landfrauen einst auf dem Weg vom Bauernhof auf den Fildern zum Markt in Stuttgart eine Rast einlegten, ihre Körbe auf die höhere Gesteinsplatte stellten und sich auf der niedrigeren Steinbank daneben ausruhten.

Wer an der Haltestelle die U 7, U 8 oder U 15 verlässt, kann eine solche Ruhebank sehen. Reinhard Wolf hält indes nicht viel davon. „Das ist keine originale Gruhe“, sagt der Experte, den schwäbischen, noch gebräuchlichen Ausdruck verwendend. „Das ist lediglich ein Nachbau aus Beton. Diese Gruhe im Schatten des Fernsehturms wurde im Jahr 2000 gebaut, 2006 bei Bauarbeiten umgebaut, das hat jemand zusammengeklebt und ist völlig disproportioniert.“

Den Marbacher zieht es viel lieber zu einem Original, und zwar in Feuerbach in der Hohewartstraße, schräg gegenüber der Hohewartschule. Täglich schlendern Anwohner, Schüler und Lehrer hier entlang, manche, ohne zu wissen, was es damit auf sich hat. Wolf war bis vor kurzem Referatsleiter Naturschutz und Landschaftspflege des Regierungspräsidiums Stuttgart. „Ich bin viel im Land herumgekommen und habe immer einen Fotoapparat in der Tasche“, sagt er. Seit 30 Jahren beschäftigt er sich nebenbei mit den Ruhebänken, hat auch in der Reihe „Auf gut Schwäbisch“ in unserer Zeitung im vergangenen November umfassend seine Kenntnisse eingebracht.

In Baden-Württemberg gibt es noch 212 Gruhen. „Ich will sie alle aufsuchen, 25 habe ich bisher geschafft, in zwei Jahren möchte ich fertig sein“, sagt Wolf, der 1950 in Künzelsau geboren wurde. Seine Dokumentation hierzu umfasst zwölf Ordner.

Die Ruhebänke wurden im 17. und 18. Jahrhundert im Auftrag der Bürgermeisterämter aufgestellt. Allerdings nicht überall, „nördlich des Mains gibt es gar keine“. Doch auch in Württemberg gibt es viele gruhenfreie Landstriche. Der Schwäbische Wald kennt keine Ruhebänke, in Aldingen und Zuffenhausen gibt’s ebenfalls keine, in Kornwestheim wiederum eine ganze Menge. „Dort war es einfach Mode.“

An Kreuzungen oder am Ende von Steigungen konnten die Landfrauen ihre aus Weiden geflochtenen Rückenkörbe (Krätten oder Krätzen genannt) mit Eiern, Butter, Schmalz, Obst oder Gemüse abstellen und nach der Rast ohne fremde Hilfe wieder in die Riemen schlupfen und die zentnerschwere Last aufnehmen. „Vom Boden hätte man solche Gewichte allein nicht hochlupfen können, und Schubkarren oder Handwägele gab es damals ja nicht.“ Doch für die Menschen war das eben Alltag, „30 Kilometer zum Markt hin und wieder zurück waren doch Spaziergängle“.

Die Ruhbank in der Hohewartstraße schlägt allerdings ein wenig aus der Art. Sie liegt an einer alten Römerstraße. Ganz am oberen Ende befand sich einst ein Schilfsandstein-Steinbruch – „ich vermute, dass die Frauen seinerzeit ihren dort arbeitenden Männern das Essen gebracht haben und an dieser Stelle hier eine Pause einlegten“.

Die imposante, circa 1,60 Meter hohe Gruhe ist vermutlich einen Meter tief im Boden verankert, „sie wiegt 1,5 bis zwei Tonnen“, sagt Wolf, „so was stellt sich keiner in den Garten“. Obwohl: Weil vor wenigen Wochen direkt dahinter ein Neubau mit Reihenhäusern fertiggestellt wurde, muss Wolf beim Vororttermin erst einmal Baustellengitter beiseiteräumen, damit überhaupt fotografiert werden kann. Die Bewohner des Neubaus blicken somit künftig von ihrer Terrasse aus direkt auf „diesen Allmachtstrumm“.

Gruhen sind Zweckmöbel, „sie wurden nicht aus ästhetischen Gründen aufgestellt“, dennoch könne man sich an ihnen erfreuen. In jüngerer Zeit wird deutlich mehr Wert auf die Erhaltung von solchen Kleindenkmalen gelegt. „Vor 15 Jahren hätte man ein solches unnützes Möbel umgerissen, bevor’s jemand auf den Zeh fällt, und die nächste Böschung hinuntergeschmissen.“

Früher trafen sich die Menschen dort zur Rast, zum Schwätzen, vielleicht für Liebeleien. Und heutzutage? Nun, auch hierfür hat der knapp 65-jährige Wolf den passenden Jugendslang parat und wählt das englische Synonym für Gruhe: „Das könnte man heute am besten Chill Stone nennen.“